Zeit deines Lebens
er es eines Abends nach dem Spielen draußen vergessen und im Regen hatte stehen lassen. Nach dieser Nacht im Freien war der schöne Streifenwagen so verrostet gewesen, dass der kleine Raphie seine ganze Polizeitruppe vorzeitig in Ruhestand schicken musste.
Als er jetzt seinen Becher in der Hand hielt, spürte er plötzlich den Impuls, ihn mit lautem Sirenengeheul über den Tisch sausen zu lassen und so heftig in die Zuckertüte zu rammen, dass sie – vorausgesetzt, keiner schaute zu – umkippte und ihren Inhalt über das Becherauto ergoss.
Im letzten Moment entschied er sich dagegen, blickte vorsichtig über die Schulter, ob er allein war, und gab dann hastig einen halben Teelöffel Zucker in seinen Becher. Von seinem Erfolg ermutigt, räusperte er sich laut, um das Knistern der Tüte zu übertönen, fuhr dann mit dem Löffel abermals und diesmal richtig tief in das süße Zeug und schaufelte eine gehäufte Ladung in seinen Becher. Nachdem er nun schon mit zwei Löffeln davongekommen war, wurde er tollkühn und griff gleich noch einmal zu.
»Runter mit der Waffe, Sir!«, erklang von der Tür her eine gebieterische Frauenstimme.
Raphie fuhr so heftig zusammen, dass der Zucker vom Löffel und quer über die Anrichte spritzte. Und es gab nun doch einen Auffahrunfall, denn der Becher knallte gegen die Zuckertüte. Höchste Zeit, Verstärkung anzufordern.
»Hab ich dich doch tatsächlich in flagranti erwischt, Raphie!« Seine Kollegin Jessica trat neben ihn an die Anrichte und nahm ihm mit einer raschen Bewegung den Löffel aus der Hand.
Dann holte sie sich auch einen Becher aus dem Schrank – ihrer war in Form von Jessica Rabbit und ebenfalls ein Weihnachtsgeschenk gewesen – und schob ihn über die Anrichte zu Raphie. Der üppige Busen der Porzellan-Jessica berührte das Becherauto, und Raphie erwischte den kleinen Jungen in sich bei dem Gedanken, dass die Männer im Streifenwagen sich bestimmt darüber freuten.
»Für mich auch einen«, unterbrach Jessica jäh seine Jessica-Rabbit-Fummel-Phantasien.
»Bitte«, korrigierte Raphie seine Kollegin.
»Bitte«, äffte sie ihn nach und verdrehte dabei die Augen.
Jessica war noch ziemlich neu im Polizeidienst, sie arbeitete erst seit sechs Monaten auf dem Revier, aber Raphie hatte sie in dieser Zeit richtig liebgewonnen. Er hatte ein Faible für die sechsundzwanzigjährige, eins vierundsechzig große, athletisch gebaute blonde Frau, die sich bereitwillig und kompetent jeder Aufgabe stellte, ganz egal, was es sein mochte. Außerdem fand er, dass das ansonsten rein männliche Team in der Station dringend ein bisschen weibliche Energie brauchte. Viele der Männer waren derselben Meinung, wenn auch nicht unbedingt aus den gleichen Gründen wie Raphie. Er sah in ihr die Tochter, die er nie gehabt hatte. Genauer gesagt, die er gehabt, aber verloren hatte. Doch jetzt schüttelte er diesen Gedanken ab und beobachtete Jessica, die den verschütteten Zucker von der Arbeitsplatte wischte.
Trotz ihrer Energie hatten ihre Augen – mandelförmig und von einem so dunklen Braun, dass man sie fast schwarz nennen konnte – eine unergründliche Tiefe, in der sich irgendetwas zu verbergen schien. Als wäre gerade eine Schicht frische Erde darübergeschüttet worden, und bald {15 } würde sich das Unkraut wieder zeigen – oder was immer sich hier versteckte oder vor sich hin gärte. In ihren Augen war ein Geheimnis, dem Raphie nicht wirklich auf den Grund gehen wollte, aber er wusste, dass es dieses Geheimnis war – was immer es auch sein mochte –, das sie in den Momenten, in denen die meisten vernünftigen Leute schnell davongelaufen wären, hartnäckig vorwärtstrieb.
»Ein halber Löffel wird mich wohl kaum umbringen«, meinte er mürrisch, nachdem er den Kaffee probiert und festgestellt hatte, dass drei Löffel perfekt gewesen wären.
»Wenn es dich letzte Woche fast umgebracht hätte, den Porsche ranzuwinken, dann schafft es ein halber Löffel Zucker ganz bestimmt. Legst du es eigentlich darauf an, eine Herzattacke zu kriegen?«
Raphie wurde rot. »Es war ein Herzgeräusch, Jessica, mehr nicht, und bitte schrei nicht so«, zischte er.
»Du solltest dich mehr ausruhen«, sagte sie, tatsächlich etwas leiser.
»Der Arzt hat gesagt, es ist alles ganz normal bei mir.«
»Dann sollte der Arzt dringend mal seinen Kopf untersuchen lassen. Bei dir war noch nie alles ganz normal.«
»Du kennst mich doch erst seit sechs Monaten«, brummte er und reichte ihr den
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