Zeit der Geheimnisse
wie als Willkommensgruß oder als Warnung.
Eine Hand streckt sich aus und legt sich auf meine.
»Wer ist tot?«, fragt er.
31 - Zwei Könige
Er ist es!
Er ist es wirklich! Er sitzt mehr oder weniger an den Baumstamm gelehnt, graue Schatten liegen auf seinem Gesicht.
»Du bist wieder da!«
Vor lauter Freude bin ich gar nicht mehr schüchtern. Ich springe auf und umarme ihn, so gut das bei jemandem geht, der an einem Baum lehnt.
»Wo hast du denn gesteckt?«
Er antwortet nicht. Ich trete einen Schritt zurück. Und erst jetzt sehe ich ihn richtig.
Er sieht furchtbar aus. Das Gesicht ist viel schmaler, als ich es in Erinnerung hatte, mit dunklen Höhlen dort, wo die Wangen sein sollten, und tiefen Schatten unter den Augen. Die Gesichtsfarbe ist furchtbar, weiß, fast grau. So in der Dunkelheit sieht er fast aus, als wäre er ein Teil des Baums.
Er zittert.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, frage ich. Und als er nicht antwortet: »Was ist los?«
Ein Schauder geht durch ihn hindurch. Ich berühre seine Hand. Sie fühlt sich eisig an.
Immer noch hat er nichts an als seine seltsame Hose. Ich ziehe meinen Mantel aus und breite ihn über seine Brust. Er rührt sich nicht.
»Du kannst hier nicht bleiben«, sage ich. Viel weiß ich nicht, aber so viel schon. Ich lege beide Arme um ihn und versuche, ihn hochzuziehen. Er schreit auf, und ich lasse ihn los. Ich weiß nicht, was ich tun soll. »Du musst mit mir kommen. Du musst.«
»Nein«, sagt er. Er legt mir eine Hand auf den Arm.
»Aber …«
Ich höre ein Geräusch von der Tür her und drehe mich um, noch bevor ich Angst bekomme. Dann stockt mir der Atem.
Es ist der Stechpalmenkönig.
Er steht in der Tür. Er ist größer, als ich ihn in Erinnerung habe – größer und auch kräftiger.
Am Türrahmen, an dem seine Hand liegt, schimmert weiß der Raureif.
Ich beiße mir auf die Lippen. Ist er mir gefolgt? Habe ich ihn hierhergeführt?
Bin ich wieder schuld?
Von der Seite sehe ich den Grünen Mann an, meinen Eichenkönig. Er streicht mit der Hand über meine und drückt sie leicht.
»Noch nicht«, sagt er.
Der Stechpalmenkönig antwortet nicht. Er richtet seine schwarzen Augen auf mich. »Du solltest nicht hier sein«, sagt er.
»Lass sie!«, haucht der Grüne Mann. Mehr ist es nicht, nur ein Ausatmen. Seine Hand über meiner zittert noch immer. »Geh nach Hause«, sagt er.
»Nein«, flüstere ich.
Es ist ganz still in der Scheune, außer seinem rasselnden Atem ist nichts zu hören.
»Pass auf«, sagt er, und ich beuge mich vor, um seine Worte zu verstehen. »Du hast mich einmal gefragt … ob es möglich ist, Menschen vom Tod zurückzubringen …« Er schaudert. Ich fasse nach seiner Hand. In der Dunkelheit der Scheune klingen seine Worte gruselig, und auf einmal habe ich Angst. »Für dich …«, sagt er, »… kann ich …«
»Was?«, frage ich. »Was kannst du für mich? Was hast du vor?« Will er meine Mutter zurückbringen? Aber wie? Als Zombie? Als Geist? Oder echt? Schrecken steigt in mir auf, so plötzlich wie Wasser.
Hinter mir bewegt sich der Stechpalmenkönig, ich höre das Knistern des Frosts an der Tür. Der Grüne Mann wird ganz starr. Er drückt meine Hand.
»Geh nach Hause«, sagt er.
Ich erwidere seinen Händedruck. Was soll ich nur sagen? Ich hab dich so lieb? Das würde sich dumm anhören und furchtbar dramatisch. Bist du sicher, dass du allein zurechtkommst? Und wenn nicht? Was würde ich dann tun? Die Polizei rufen? Und was hat er gemeint mit seinem »Noch nicht«? Wie viel länger hält er noch durch?
Ich beuge mich vor und hebe den spitzen Stein auf, mit dem ich gezeichnet habe. Der Eichenkönig, mein Grüner Mann, lässt meine Hand los. Das Ungeheuer an der Tür tritt zur Seite, um mich durchzulassen. Es kommt mir so vor, als hätte der Grüne Mann den Kopf gehoben, aber weil es so dunkel ist, bin ich mir nicht sicher. Seine Seite der Scheune liegt im Schatten; eine graue Tuschezeichnung, die sich im Baumstamm auflöst. Man kann in der Dunkelheit kaum sagen, wo das eine beginnt und das andere aufhört.
Ganz langsam bewege ich mich am Stechpalmenkönig vorbei. Ich zittere. Weder er noch mein Grüner Mann rühren sich von der Stelle. Ich halte den kalten Stein fest in meiner Hand. Wenn ich ihm den direkt ins Gesicht werfe, könnte ich ihn so umbringen?
Ganz dicht bin ich jetzt neben ihm. Sein starker Tiergeruch hüllt mich ein. Ich müsste nicht mehr tun als den Arm heben und werfen.
Ich tu’s nicht. Ich
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