Zeit der Geheimnisse
besuchen.
Hannah zankt nicht herum, und sie macht auch nichts kaputt, aber sie lässt den Kopf hängen. Wenn Dad mit ihr redet, dreht sie sich weg. Zweimal fängt sie ohne jeden Grund auf einmal zu weinen an, als wir zusammen draußen sind.
Ich weine nicht. Ich habe Dad auch nicht verziehen, aber ich kann es nicht sagen. Nicht nach dem, was letztes Mal passiert ist. Väter sind dafür da, dass sie einen lieben, egal was man macht, aber wenn er uns hierher zurückschicken kann, nur weil wir uns einmal gestritten haben, dann ist vielleicht genau dieser Teil von ihm kaputtgegangen. Und wenn wir uns irgendwann wieder streiten und er fährt einfach zurück zu unserem Haus in Newcastle und kommt nie wieder?
Ich fange an, vom Stechpalmenkönig zu träumen. Nachts schleicht er ums Haus herum. Er bringt den Winter. Er sorgt dafür, dass Eiszapfen in den Kamin wachsen und Raureif an den Hausmauern hochkriecht. Er pfeift durch die Ritzen in den Türen und klopft an meine Fensterscheibe. Er versucht reinzukommen.
Ich lese viel. Ich bin mit allen Schwarze-Sieben-Bänden durch und fange gerade mit einer Mystery-Reihe an. Grandma beschwert sich darüber, wie teuer es sie kommt, all diese Bücher für mich zu kaufen, schließlich gäbe es ja wohl genug Bücher in der Bibliothek. Aber alle Enid Blytons und Jacqueline Wilsons, die es in der Leihbücherei von Hexham gibt, habe ich schon gelesen, und was soll ich denn sonst machen? Ich helfe Grandpa im Laden.
Ich wachse ein ganz kleines bisschen.
Und es wird Dezember.
29 - O Tannenbaum am Gartenzaun
Seit kurzem fallen Weihnachtskarten durch den Briefschlitz in der Tür. Hannah und ich schreiben auch Karten, jeder aus unserer Schule bekommt eine.
»Was ist mit Dad?«, frage ich.
»Väter kriegen keine Weihnachtskarten«, sagt Hannah. Sie beugt sich über den Tisch und schreibt mit gesenktem Kopf wild drauflos. Ich schaue ihr über die Schulter.
»Die schickst du ja wohl nicht ab!«, sage ich.
»Und ob ich das mache«, sagt Hannah. Sie steckt die Karte in einen Umschlag, leckt über den Klebestreifen und drückt die Klappe zu.
»Dad«, erinnere ich sie. »Können wir Dad eine schicken? Er schickt Grandma und Grandpa ja auch eine.«
Über den Tisch sieht Hannah mich finster an.
»Grandma und Grandpa und Dad wohnen ja auch nicht zusammen«, sagt sie. »Kapiert? Wir sollten eigentlich bei Dad wohnen, nur tun wir’s nicht. Und Dad soll nicht glauben, das wäre in Ordnung so, also kriegt er auch keine Weihnachtskarte. Die kriegen nur Leute, mit denen man nicht zusammenwohnen sollte. Okay?«
»Okay«, sage ich.
Hannah nickt.
»Eben«, sagt sie.
Halb erwarte ich, dass Dad uns eine Weihnachtskarte schickt, aber nicht einmal Grandma und Grandpa bekommen eine von ihm.
Was soll das jetzt wieder heißen?
Man sollte ja meinen, dass Josh wegen so einer Karte wie der von Hannah sauer wäre, aber er lacht bloß, als er sie bekommt.
»Lies erst mal meine«, sagt er.
Wir versammeln uns alle um Hannah, während sie liest.
Merry Christmas, Joyeux Noël, Fröhliche Weihnachten, Feliz Navidad
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Ich habe irgendwie ein seltsames Gefühl im Magen, als ich die Karte lese.
»Was ist mit der Seite drei?«, frage ich.
»Die kommt nach der Seite zwei«, sagt Matthew und lacht.
»Mistkerl«, sagt Hannah. »Er meint die Seite drei in der SUN. Da sind immer nackte Mädchen drauf.«
Hannah ist auch nicht sauer wegen ihrer Karte. Sie liest sie noch einmal und grinst. Dann steckt sie sie in ihr Mäppchen.
Ich frage mich, ob ich meine Schwester irgendwann mal verstehen werde.
Seit Weihnachten immer näher rückt, kommen immer neue Sachen dazu, die mir Sorgen machen. »Wir kriegen doch unsere Weihnachtsstrümpfe, oder?«, frage ich Grandpa.
»Natürlich«, sagt Grandpa. Er packt gerade eine große Kiste mit Konservendosen aus. »Magst du die mal ins Regal stellen, Liebes? Ich werde dem Weihnachtsmann persönlich Bescheid sagen.«
Ich quetsche die Büchsen ins Regal und stelle mich wieder hinter die Theke. An der Kasse klebt ein nutzloser Aufkleber mit einem Barcode darauf. Ich versuche ihn abzuknibbeln, ohne dass Spuren auf dem Plastik zurückbleiben. Ich weiß, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Ich weiß, dass es in Wirklichkeit die Mütter sind.
»Aber unsere Strümpfe sind bei Dad.«
»Er kann sie doch mitbringen.«
Ich knibble weiter an dem Aufkleber und passe auf, dass
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