Zeit der Geheimnisse
ich, dicke Tränen mit tiefen Schluchzern. »Ich wünschte, du wärst gestorben«, sage ich. »Und Mum wäre noch am Leben. Mum hätte uns nicht verlassen.«
Dad steht auf, so plötzlich, dass ich glaube, jetzt schlägt er mich, mein wunderbarer Dad schlägt mich gleich.
»Das ist alles so lächerlich«, sagt er.
Ich halte inne, mitten im Schluchzen.
»Ich weiß nicht, wie eure Grandma sich das denkt«, sagt er. »Ich weiß nicht, wie ihr euch das denkt. Bildet euch ein, ihr könnt einfach so zurückkommen und hier wohnen.«
Hannah macht sich ganz steif.
»Können wir das nicht?«
»Nein.«
Die Zeit bleibt stehen.
»Es tut mir leid, dass ich nicht gestorben bin«, sagt Dad. »Anderenfalls würde sich dieser ganze Mist vielleicht von selber klären.«
Das ist jetzt so gruselig, dass ich nicht einmal mehr weinen kann. Dad weint auch nicht, aber unter der Haut zucken die Muskeln in seinem Gesicht.
»Ich rufe jetzt eure Grandma an«, sagt er und geht mit großen Schritten aus dem Zimmer. Dabei drängt er mich beiseite, wie Hannah das gerne macht.
Es läutet an der Tür.
Hannah starrt mich wütend an.
»Vielen Dank!«, sagt sie. »Dass du alles kaputt gemacht hast!« Dann rennt sie aus dem Zimmer, hinter Dad her.
Es läutet wieder.
Es ist der Mann von der Pizzeria.
»Ihr habt Pizza bestellt«, sagt er.
Ich antworte nicht. Ich kann nicht, vor lauter Weinen.
»Könntest du vielleicht deine Mum oder deinen Dad holen?«, fragt er. »Ich meine bloß – irgendwer müsste bezahlen.«
27 - Verwaist
Wenn man nur einen Elternteil hat – so wie Hannah und ich, weil unsere Mum gestorben ist –, dann ist man eine Waise. Ich dachte immer, das sagt man nur, wenn beide Eltern tot sind, aber das gilt auch bei einem.
Waisenkind, das hört sich irgendwie großartig an, so nach Harry Potter oder nach Mary in Der Geheime Garten. Hannah und ich müssten in einem Kinderheim leben, so wie Tracy Baker, oder an einer Straßenecke, mit löchrigen Stiefeln und ohne Essen. Aber in Wirklichkeit ist es ganz anders, wenn man Waise ist.
Es klingt so dramatisch, Waise sein, aber das ist es eigentlich nicht. Man gewöhnt sich daran. Man gewöhnt sich an alles. Man gewöhnt sich daran, im Haus von jemand anderem zu leben und seine eigenen Sachen oder seine Freunde oder seinen Dad nicht um sich zu haben und auf eine winzige Schule zu gehen, wo niemand mit einem spricht und Josh und Matthew einen dauernd auslachen. Man gewöhnt sich daran, dass Hannah und Grandma ständig Krach haben, dass Dad immer weggeht und dass man nicht weiß, ob man jetzt für immer hierbleibt oder vielleicht morgen nach Hause zurückkehrt.
Man kann sich sogar daran gewöhnen, ein Loch in seinem Leben zu haben, wo vorher jemand gelebt hat. Ein Loch an einer Stelle, wo dieser Mensch doch für alle Zeit leben sollte – nur dass er dann plötzlich eines Tages, ohne sich noch einmal umzudrehen oder sich zu verabschieden, einen Schritt zur Seite gemacht hat und für immer verschwunden ist.
28 - November
Grandpa holt uns wieder ab. Auf der ganzen Rückfahrt denke ich daran, dass Grandma sicher böse auf uns sein wird, und ich glaube, Grandpa geht es genauso, denn sobald wir zur Tür hereinkommen, sagt er: »Sie können nichts dafür, Edie.«
Grandma streicht sich mit der Hand durchs Haar.
»Natürlich nicht«, antwortet sie grimmig. Dann bemerkt sie Hannahs Miene und sagt: »Ach komm, Fräulein, sieht ja ganz so aus, als hätten wir euch noch eine Weile hier. Dann wollen wir doch mal sehen, ob das neue Geschirr dieses Mal heil bleibt, wie?«
Aber Hannah macht nichts mehr kaputt.
Inzwischen ist es November, und die Nächte werden länger. Jeden Tag wird es früher dunkler. Wenn mein Grüner Mann recht hat, heißt das, dass der Stechpalmenkönig stärker wird. Seit wir von Dad zurück sind, fühlt sich alles schwerer und trüber an. Sogar der Himmel ist schwer – graue Wolken, mit grauem Himmel dahinter.
Im ganzen November kommt Dad uns nur zweimal besuchen. Und beide Male hält er sich auch nicht lange im Haus auf – ich glaube, er hat Angst vor Grandma, davor, was sie sagen könnte. Seit unserem Wochenende zu Hause haben sie kaum miteinander gesprochen. Aber es ist auch nicht so, als würde er stattdessen irgendwas Interessantes mit uns machen. Einmal essen wir Fish und Chips am Strand in Alnmouth, einmal machen wir einen Spaziergang ums Dorf – denselben langweiligen Spaziergang, den wir immer machen, wenn wir Grandma und Grandpa
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