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Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Eichenkönig.«
    Ich presse die Lippen aufeinander, so fest wie Eichenwurzeln.
    »Molly?«, sagt Miss Shelley.
    Ich blicke auf. »Und die Jagd – gehört sie zu ihm?«, frage ich.
    »Die Jagd?«
    »Die Wilde Jagd? Gehört sie zum Stechpalmenkönig?«
    »Oh, die Wilde Jagd«, antwortet Miss Shelly. »Alle möglichen Leute hatten so eine Wilde Jagd. Wotan. Und Herne natürlich, der gehörnte Gott. Auch der Teufel, wenigstens in manchen Versionen, und in anderen König Artus. Sogar dein Grüner Mann soll sie anführen, einigen Geschichten zufolge.«
    »Das stimmt nicht!«, sage ich. »Das würde er nie tun!«
    Matthew schnaubt verächtlich. Hinter Miss Shelleys Rücken lässt Josh einen Finger um sein Ohr kreisen. Die spinnt doch!
    »Hör auf damit!«, sage ich.
    Miss Shelley zuckt zusammen. »Molly!«
    »Ich hab Josh gemeint!«, sage ich.
     
    In der Pause fängt Hannah mich ab.
    »Wieso machst du so was?«, fragt sie und schubst mich gegen die Mauer im Pausenhof. »Wieso quasselst du ständig von deinen blöden Göttern und Wilden Jagden? Die denken doch alle, du hast sie nicht mehr alle. Das ist dir doch klar, oder? Wenn du dir schon Geschichten ausdenkst, dann wenigstens halbwegs gescheite.«
    »Das ist keine Geschichte«, protestiere ich wütend.
    Hannah funkelt mich an.
    »Werd endlich groß«, sagt sie. Dann lässt sie die Arme sinken und geht weg.
    Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen. Hannah istdoch angeblich meine Schwester. Und Schwestern sollen doch angeblich zusammenhalten.
    »Mum hätte mir geglaubt«, rufe ich ihr hinterher.
    Sie schaut sich nicht um.

 
     
    Ein Aneurisma in der Familie
     
     
    Ein Aneurisma ist eine schlimme Sache, die manche Leute kriegen. Dabei verändert sich die Wand eines Blutgefäßes, sodass Blut hineinfließen kann und sich eine Art Blase bildet, die immer größer wird, bis sie in einem drin platzt und man stirbt.
    So ein Aneurisma kann jeder jederzeit kriegen, sogar Kinder, obwohl Tante Rose gesagt hat, es sei nicht sehr wahrscheinlich, dass Hannah oder ich das bekommen. Sie sagt, Aneurismen kommen nur ganz, ganz selten vor. Und die meisten Leute, die so was kriegen, sind alt. Von allen, die ich kenne, könnte also am ehesten Grandpa so was bekommen, denn er ist am ältesten.
    Das heißt, von allen, die ich liebe, ist er wahrscheinlich der Nächste, der stirbt.
    Mum hatte so ein Aneurisma. Daran ist sie gestorben. Sie hat uns noch nachgewinkt am Schultor, dann ist sie in ihr Auto gestiegen und weggefahren, und eine halbe Stunde später war sie tot. Wir waren also die Letzten, die sie lebend gesehen haben.
    Wenn wir Ärzte wären oder die Fünf Freunde oder wenn wir etwas von Aneurismen verstanden hätten, dann hätten wir vielleicht bemerkt, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte, und hätten sie retten können. Man sollte doch meinen, wenn eine Frau eine halbe Stunde später sterben wird, dann merken ihre Kinder das. Aber wir haben nichts bemerkt.
    Als es passiert ist, haben sie Dad im Büro angerufen, aber unshaben sie nicht Bescheid gesagt. Wir haben erst davon erfahren, als wir aus der Schule kamen und Grandma dastand und auf uns wartete. Aber bis dahin war sie schon tot.
    Wir konnten uns also nicht mal von ihr verabschieden.

 
     
    Ein Mann auf der Straße
     
     
    Kick. Kick. Kick. Ich stapfe die Straße hinunter und trete mitten in das Herbstlaub, sodass die Blätter hochwirbeln. Du hast doch keine Ahnung, Hannah. Und du auch nicht, stinkender Josh Haltwhistle. Kick. Und du auch nicht, Dad. Du könntest uns zurückholen, wenn du wolltest. Natürlich könntest du.
    Ich stapfe wütend um die Kurve …
                                                            … und stocke.
    Da ist er. Schnüffelt an der Straße herum. Wie groß er ist!
    Ich drücke mich in die Hecke. Er hat mir den Rücken zugekehrt und den Blick auf den Pfad gerichtet, der zu der Scheune des Grünen Mannes führt. So nah ist er, dass ich einen Stein nach ihm werfen und ihn treffen könnte.
    Es ist der Jäger. Der Stechpalmenkönig.
    Hinter der Hecke verborgen wende ich keinen Blick von ihm. So im Tageslicht sieht er halbwegs menschlich aus, dick und gebückt, mit seltsam hohen Schultern und Beinen, die eher an die eines Ochsen erinnern. Er trägt eine Art Umhang, aber seine Beine sind mit dichtem schwarzem Haar bedeckt, wie bei einem Faun. Als er den Kopf dreht und die Straße hinunterblickt, sehe ich sein Gesicht. Es ist

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