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Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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des Pfades, so als wäre er aus irgendeinem wirklichen verzauberten Königreich herausgetreten. Ich sehe, wie von dem Baum über seinem Kopf Blätterherunterwehen. Der Baum ist kahler als die übrigen an dieser Straße. Das Gras neben seinen klauenartigen Füßen ist von einer dicken Frostschicht überzogen, die immer feiner wird, je weiter sie von ihm entfernt ist. Während ich zusehe, kriecht der Frost wie bleiche, eisige Perlen am Stamm hinauf. Ich zittere.
    Um mich herum wird es dunkel.

 
     
    Demeter
     
     
    Wie kann ein Gott das Wetter verändern?
    Ich kenne noch eine Geschichte über den Winter.
    Sie handelt von einer griechischen Göttin, deren kleine Tochter verschwindet. Eben spielte sie noch im Wald, und auf einmal ist sie fort.
    Die Göttin wandert über die ganze Welt und sucht nach Persephone, ihrer Tochter. Sie ist so traurig, dass nichts mehr wächst auf der Welt. Die Bäume werfen ihr Laub ab. Blumen strecken die Köpfe aus dem Boden, verschrumpeln aber sofort wieder und ziehen sich in die Erde zurück. Und da nichts wächst, hat niemand etwas zu essen. Alle Menschen leiden Hunger.
    Eines Tages, als die Göttin an einer Quelle nach ihrer Tochter sucht, findet sie den Gürtel des Mädchens am Boden. Sie hebt ihn auf und fängt wieder an zu weinen.
    Wie sie so am Ufer sitzt, taucht der Kopf einer Frau aus dem Wasser auf. Es ist eine Nymphe.
    »Frau«, sagt der Wassergeist, »hör auf zu weinen. Deine Tochter ist die Königin der Unterwelt. Hades, der Herr über das Totenreich, hat sie gestohlen und zur Frau genommen.«
    Als die Göttin das hört, springt sie auf und fliegt geradewegs zu Zeus. Er ist der König der Götter und Persephones Vater.
    »Zeus«, sagt die Göttin und verneigt sich tief, »bitte hilf mir. Bitte rette unsere Tochter!«
    Doch Zeus ist ärgerlich. Er ärgert sich, weil nichts wachsen will und die Menschen sterben.
    »Was hast du gegen meinen Bruder, den König der Unterwelt?«, fragt er. »Persephone ist dort unten eine ebenso große Königin wie meine Gemahlin hier oben.«
    (Persephone hatte also ihren Onkel geheiratet. Aber das war für griechische Götter völlig normal, daran hat sich niemand gestört.)
    Persephones Mutter aber hört nicht auf zu weinen und zu flehen. Am Ende gibt Zeus nach.
    »So soll sie freikommen«, sagt er. »Aber nur, wenn sie keine der Früchte der Unterwelt gegessen hat.«
    Die Göttin springt auf und lacht vor Freude. Doch wer zuletzt lacht, lacht am besten, und das war Zeus. Denn Persephone hatte im Garten des Hades Granatapfelkerne gegessen, und so muss sie bleiben.
    Doch Hades will nicht, dass seine Frau unglücklich ist, und bietet ihr einen Handel an. Persephone soll sechs Monate bei ihrer Mutter auf der Erde verbringen und sechs Monate bei Hades in der Unterwelt. Für die alten Griechen war das der Grund, weswegen es Sommer und Winter gibt – im Winter wächst nichts, weil Persephones Mutter so traurig ist, und im Sommer blüht und wächst alles, weil sie so froh ist, ihre Tochter wieder bei sich zu haben.
    Ich mag die Geschichte. Ich glaube, es stimmt, dass alles dunkler und kälter wird, wenn man traurig ist, und alles hell strahlt, wenn man glücklich ist.
    Persephones Mutter heißt Demeter.
    Sie ist die Göttin der Mutterliebe und allen Wachstums.

 
     
    Die Kastanienkönigin
     
     
    Am Ende der Straße, in der unsere Schule steht, wächst eine große Kastanie. Ihretwegen sind die Jungen heute ganz aus dem Häuschen.
    »Miss, die Kastanien sind reif!«
    »Miss, dürfen wir Kastanien fürs Kastanienspiel holen?«
    »Miss, das ist sehr lehrreich, Miss!«
    In meiner alten Schule fand niemand das Kastanienspiel lehrreich. Dort galt es als gewalttätig und aggressiv . »Wenn ihr nicht schön spielen könnt, dann wird eben gar nicht gespielt«, hieß es. Hier hingegen geht Miss Shelley mit uns in der Pause die Straße hinunter, und wir dürfen uns so viele Kastanien nehmen, wie wir können. Josh und Matthew sammeln sie bergeweise. Alexander nimmt sich nur drei – die größten, die er finden kann.
    Im Unterricht lernen wir alles über Kastanien. Eigentlich heißen sie Rosskastanien, und man kann sie nicht im Feuer rösten und essen. Sie sind Samen. In jeder von ihnen ist ein kleiner Funken Leben, der bis zum Frühling schläft. Aus denen, die am richtigen Ort landen, kommt oben ein kleiner Spross heraus, wenn der Frühling beginnt. Der wächst und wächst, bis er selbst zu einem richtigen Kastanienbaum geworden ist.
    Jedenfalls hat Miss

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