Zeit der Geheimnisse
antwortet nicht.
Er kommt nicht.
Er ist auch weg.
Schrecken
Regen klatscht an die Fenster und kommt in Strömen den Hang herunter. Die Haare kleben mir am Kopf, als ich mich auf der Landstraße nach Hause durchkämpfe. Da fließt jetzt schon ein richtiger Fluss.
Jack kauft gerade bei Grandma ein, als ich in den Laden komme.
»Sie ist ein Prinzesschen«, sagt sie gerade. »Ich weiß nicht, wie viel länger – «
Als sie mich sieht, bricht sie mitten im Satz ab. »Und wo bist du gewesen, mein Fräulein?«
»Draußen. Mit dem Fahrrad.«
»Na gut. Dann zieh die Gummistiefel aus. Pass auf, dass du mir den Dreck nicht im ganzen Haus verteilst. Und weck deinen Grandpa nicht auf!«
Darüber, dass ich klatschnass bin, sagt sie nichts. Und sie fragt auch nicht, was ich so lange draußen gemacht habe, bis es schon fast dunkel ist und der Himmel grau und schwer vom Abend und vom Regen.
Ich gehe in den Flur und ziehe mir die Stiefel aus. Aus der Küche kommt auf einmal Lärm. Irgendwas fällt runter.
»Und die andere – «, höre ich Grandma sagen.
Ich zögere. Wieder poltert es heftig in der Küche.
Ich mache die Tür auf und bleibe erschrocken stehen. Der Boden ist übersät mit Glassplittern und Scherben von Schüsseln und Tellern. Hannah steht auf einem Stuhl, ihr Kopf steckt imobersten Schrankfach. Als sie mich hört, dreht sie sich um. In den Händen hält sie Grandpas extragroßen Tontopf.
»Hannah!«
Hannah sieht mich mit ihrem allereisigsten Blick an, diesem Versuch-nicht-mich-aufzuhalten-Blick. Sie hält den Topf hoch über die Stuhllehne. Dann lässt sie ihn fallen.
Ich schreie und mache einen Satz nach hinten. Stücke des ehemaligen Kochtopfs schlittern über den Küchenboden.
»Hann aah ! Hör auf! Was soll das?«
»Ich will nach Hause«, sagt Hannah. Ganz ruhig sagt sie das. Dann greift sie sich einen Becher vom Becherbaum.
»Hannah!« Grandma kommt aus dem Laden. Einen Moment lang steht sie neben mir in der Tür und starrt auf das Durcheinander, aber im nächsten Moment ist sie bei Hannah, packt sie am Handgelenk und windet ihr den Becher aus den Fingern. Dann verpasst sie ihr eine Ohrfeige.
Hannah starrt sie mit offenem Mund an. Noch nie hat uns jemand geschlagen, egal, was wir gemacht haben. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob das erlaubt ist. Grandma packt Hannah an den Handgelenken, Hannah versucht sich loszureißen, und der Stuhl wankt und kippt gegen den Geschirrschrank.
»Hört auf!«, schreie ich. »Hört auf!«
Auf einmal ist Grandpa da. Mit ein paar Schritten ist er bei Hannah, fasst sie um die Mitte, hält sie fest, damit sie nicht fällt.
»Na, na«, sagt er. »Nun komm erst mal runter.«
»Guck dir das an!«, sagt Grandma und zeigt auf den Scherbenhaufen, der einmal die Küche war. »Guck dir an, was sie gemacht hat!«
»Ich weiß«, sagt Grandpa. »Ich weiß.« Er hört sich an wie jemand, der ein Tier besänftigen will. Er sieht zu Hannah hoch, die noch immer auf dem Stuhl balanciert. Sie ist ganzweiß im Gesicht, bis auf den roten Abdruck von Grandmas Fingern.
»Hannah, geh auf dein Zimmer«, sagt Grandpa.
Hannah rührt sich nicht. »Sie hat mich geschlagen«, sagt sie. » Geschlagen! «
»Ich weiß«, sagt Grandpa wieder und streckt eine Hand aus. »Komm jetzt, komm. So, ja. Später reden wir drüber.«
Er schiebt Hannah zur Tür, und Hannah geht, mit immer noch ungläubigem Blick, so als könnte sie es nicht glauben.
Ich stehe weiter in der Tür. Ich erwarte, dass Grandpa irgendetwas zu mir sagt, dass er fragt, ob alles in Ordnung ist mit mir, ob ich mit der Sache was zu tun habe, aber nichts. Er geht rüber zu Grandma und legt den Arm um sie.
Grandma weint fast.
»Ich schaff es nicht«, sagt sie. »Es geht nicht. Du brauchst mich gar nicht erst zu bitten, ich schaff es nicht.«
Sie ist ganz rot im Gesicht. Grandpa will sie in den Arm nehmen, aber sie trommelt mit den Fäusten gegen seine Brust.
»Fass mich nicht an!«, sagt sie. »Lass es! Ich schaff es nicht.«
Ich will, dass Grandpa mich ansieht. Ich will nicht vergessen werden. Aber das hier ist nicht mein Haus, es ist Grandmas und Grandpas, und Grandpa streichelt Grandmas Arme – ich würde es ja nicht wagen, sie zu berühren, so wütend, wie sie ist – und sagt: »Ich weiß. Ich weiß, mein Liebling«, und auf einmal bekomme ich Angst. Sie wollen mich nicht hierhaben. Ich gehe und setze mich auf die Treppe und wünsche mir mit aller Kraft ein Zaubergewand oder eine gute Fee als
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