Zeit der Geheimnisse
sieht er Dad so ähnlich. Das ist mir noch nie aufgefallen. Wie Dad, nur nicht so schief, und seine Haut ist schlaffer und bleicher. An Grandpa ist alles bleich: das weiße, dünne Haar, die wasserhellen Augen – so als wäre das Leben durch ihn durchgespült und hätte ihn halb weggewaschen. Auf einmal frage ich mich, ob dasselbe auch mit meinem Dad passieren könnte. Dass das Leben durch ihn hindurchfährt und ihn uns für immer wegnimmt.
Ja. Das könnte passieren.
»Ein ganzes Wochenende mit eurem Dad!«, sagt Grandpa. Ich presse die Lippen aufeinander und nicke.
Ein ganzes Wochenende mit Dad.
Genau das wünsche ich mir doch, mehr als alles andere.
Ich nicke langsam und bemühe mich, nicht zu weinen.
Sonnenwende und Tagundnachtgleiche
Halloween ist da. In der Schule basteln wir eine Wanddeko: eine Hexe mit orange-schwarz gestreiften Strümpfen, einen Vampir mit lila Fliege und eine Mumie aus Klopapier, das wir aus dem Putzschrank geklaut haben.
»Falls die Putzfrauen fragen – ich hatte nichts damit zu tun«, sagt Miss Shelley, und Mrs. Angus schüttelt den Kopf und tut so, als sähe sie nichts.
Wir schnitzen Kürbislaternen mit gezackten Mündern und Schlitzaugen. Miss Shelley zieht die Vorhänge zu und reiht alle Laternen auf der Fensterbank auf. Sie sehen wundervoll gruselig aus. »Im Mittelalter«, sagt sie, »haben sie Futterrüben ausgehöhlt, nicht Kürbisse. Um böse Geister abzuwehren.«
»Hatten sie die immer?« Alexander stellt wieder einmal die klügste Frage. »Oder nur an Halloween?«
»Nur an Halloween«, sagt Miss Shelley. »Die Menschen dachten, dass in bestimmten Nächten im Jahr die Grenzen zwischen den Welten durchlässig werden. Andere – Dinge könnten dann hindurch gelangen.«
»Cool«, sagt Josh. »Wir können sie ja mal rufen!«
Aber Mrs. Angus sagt, mit so was müssen wir noch warten, bis wir in der weiterführenden Schule sind.
»Was für Dinge waren das denn, die da kamen?«, fragt Matthew.
»Na ja, Geister und Gespenster«, sagt Miss Shelley. »Deine Wilde Jagd, Molly. Halloween war eine der Nächte, in denen sie unterwegs war.«
»Wann sonst noch?«, frage ich. »Wann kommen sie sonst noch?«
Miss Shelley streicht sich ihr blondes Haar hinter die Ohren. In dem dämmrigen Licht sieht sie sehr wie meine Mum aus. »Zur Sonnenwende und zur Tagundnachtgleiche«, sagt sie. »Also jeweils an den längsten und den kürzesten Tagen des Jahres. Und an den Tagen, an denen Tage und Nächte genau gleich lang sind. Am zweiundzwanzigsten September war die Herbst-Tagundnachtgleiche. Danach werden die Nächte länger und schwärzer, bis zur Wintersonnenwende.«
Im dunklen Klassenraum mit den zugezogenen Vorhängen und den leuchtenden Kürbislaternen sind auf einmal sogar die Jungs ganz still. Ich zittere. Am zweiundzwanzigsten September. War das der Tag, an dem die Wilde Jagd durch den Ort ritt? Werden sie heute kommen?
Als Grandpa fragt, ob wir nicht Lust haben, in Halloween-Verkleidung durch den Ort zu ziehen und an den Türen zu klingeln, stöhnt Hannah auf.
»Für wie alt hältst du mich eigentlich?«, fragt sie.
Grandpa sieht unsicher aus.
»Moll?«, fragt er.
»Ich bin auch schon zu alt dafür, Grandpa«, sage ich, obwohl das nicht wahr ist. Auch Hannah ist nicht zu alt. Zu Hause setzen sich sogar noch ältere Kinder eine Maske auf, wenn sie dafür Süßigkeiten kriegen können. Aber alleine gehe ich nicht vor die Tür, nicht wenn der Stechpalmenkönig wieder unterwegs ist.
Grandpa bemüht sich, nicht so enttäuscht auszusehen.
Wieder zu Hause
Freitagabend. Dad sollte eigentlich schon da sein, um uns abzuholen, aber er verspätet sich. Hannah und ich sitzen mit Sack und Pack im Wohnzimmer. Hannah tritt gegen das Sofa, ta-tong, ta-tong, ta-tong.
»Ist er immer noch nicht da?«
»Er kommt schon noch«, sagt Grandma. »Reg dich nicht so auf. Ihr könnt ja so lange ein bisschen fernsehen oder so.«
Hannah zappt sich durch die Kanäle, lässt aber keinen an. Dann macht sie den Fernseher aus und wieder an und wieder aus und wieder an, sodass die Darsteller aus Nachbarn immer nur kurz auftauchen – da, weg, da, weg, da –
»Kannst du das mal lassen!«, sagt Grandma. »Hannah!«, aber Hannah springt auf und rennt zum Fenster.
»Ist Dad da?«
Nein, kein Dad.
Ich halte mir das Buch dicht vors Gesicht, so dicht, dass die Schrift verschwimmt und sich auflöst, dass die Wörter ineinanderfließen und keinen Sinn mehr ergeben. Ich
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