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Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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still, aber plötzlich geht sie auf Josh los und stopft ihm Eisreste hinten in den Kragen. Josh windet sich.
    »He, taube Nuss! Lass das! Hände weg!«
    Aber er lacht, und Hannah auch. Ich sehe ihnen zu und versuche dahinterzukommen, ob sie jetzt Freunde oder Feinde sind. Schlau werde ich nicht aus ihnen.

 
     
    Im Mondlicht
     
     
    Heute nehme ich meine Kastanien von der Fensterbank. Sie sind geschrumpelt und ein Stückchen kleiner geworden; hart und dunkel sind sie jetzt. Sie erinnern mich an die Steine oder Holzstückchen, die Mum immer gesammelt hat, und die Vorstellung, dass ich auf die Art ein kleines Stückchen von meiner Mutter in mein Zimmer geholt habe, macht mich froh.
    Ich sitze auf meiner Fensterbank, in jeder Hand eine Kastanie, und versuche, den Funken Leben zu spüren, von dem Miss Shelley uns erzählt hat. Ich stelle ihn mir vor wie einen Samen, der tief unter den verschiedenen Kastanienschichten verborgen ist. Ich knibbele daran, um die Sache zu beschleunigen.
    Mach schnell, sage ich im Kopf. Wach auf. Wachse!
     
    Als ich eingeschlafen bin, träume ich.
    Ich träume, dass jemand in unserem Garten ist. Ein Junge. Er hat überhaupt nichts an. Im Mondlicht sehe ich seinen nackten Rücken. Er kniet im Schnee, zitternd. Mehr als zitternd. Er schüttelt sich am ganzen Körper. Vornübergebeugt kniet er da, schlingt die Arme um sich, schüttelt sich ununterbrochen, schaut mit wildem Blick immer wieder um sich, so als hätte er das alles noch nie gesehen – den Raureif, die Bäume, die Gärten, den Mond.
    Ich richte mich in meinem Bett auf und knie mich hin, stecke den Kopf unter dem Vorhang durch und beobachte ihn. DerMond ist groß und hell. Der Himmel ist voller Sterne. Raureif glitzert an den Ästen. Nicht das kleinste Geräusch ist zu hören, nur dieser Junge, der sich schüttelt und nach Luft schnappt. Sonst ist alles still.
    Der Junge hebt seine Hände und betrachtet sie. Dreht und wendet und betrachtet sie, als hätte er noch nie Hände gesehen. Als er zu meinem Fenster hochsieht, ducke ich mich schnell hinter den Vorhang weg, damit er mich nicht sehen kann. Ich zittere. Ich weiß genau, wer er ist, so wie man eben im Traum Dinge weiß. Es ist mein Grüner Mann, der Grüne Gott, der als Junge zurückgekommen ist. Ich habe Angst, aber gleichzeitig bin ich unheimlich aufgeregt. Er sollte doch tot sein, aber er ist es nicht. Er ist zurückgekommen.
    Ganz vorsichtig ziehe ich den Vorhang ein Stück auseinander und spähe durch den Spalt.
    Er ist jetzt aufgestanden und läuft im Garten herum. Er zittert nicht mehr. Er ist beinahe genauso groß wie ich. Er berührt die Zweige der Bäume, und sie zittern unter seinen Fingern. Am Fuß des Baums ganz hinten im Garten kniet er nieder und berührt das Gras, da und da und da.
    Was macht er da bloß? Ich presse mein Gesicht an die Fensterscheibe, aber ich kann nichts erkennen, es ist zu dunkel, und er ist zu weit weg.
    Er steht unter den Bäumen, betrachtet das Gras, das er berührt hat. Ist da jetzt irgendetwas? Ich weiß es nicht. Er dreht sich um und sieht wieder zu meinem Fenster hoch, der schöne, unbekleidete Junge im Mondlicht.
    Und dann ist er weg.

 
     
    Schneeglöckchen
     
     
    Am nächsten Morgen, als ich den Vögeln Brotkrumen hinausbringe, sehe ich Fußspuren im gefrorenen Gras. Sie beginnen mitten auf der Wiese und führen einmal um das Blumenbeet herum. Dort enden sie.
    Im Raureif unter der Eiche, dort, wo letzte Nacht der Junge kauerte, blühen kleine Blumen. Schneeglöckchen.
    »Na so was«, sagt Jack, der mir von seinem Küchenfenster aus zulächelt. »Hast du die gemacht, kleine Hexe?«
    Ich zwinkere ihm zu, sage aber nichts.
    »Hast du noch nie Schneeglöckchen gesehen?«, fragt er.
    Ich antworte nicht. Ganz behutsam berühre ich die Blüten, um ganz sicher zu sein, dass sie auch echt sind.

 
     
    Glück
     
     
    Auf dem Weg hügelabwärts zur Schule singe ich.
    »There is singing in the desert, there is laughter in the skies –   «
    »Halt die Klappe!«, sagt Hannah.
    »Nein«, singe ich. »Na-hein, na-hein, nein. Hannah, hast du schon mal was geträumt, das auf einmal Wirklichkeit war?«
    »Hab ich was ?«
    »Hast du schon mal einen Traum gehabt, der dann plötzlich wahr wurde?«
    »Ja«, sagt Hannah. »Ich habe geträumt, ich hätte eine kleine Schwester, die nicht aufhören wollte zu singen, also hab ich sie gepackt – « Sie boxt mich. Normalerweise hätte ich geschrien, aber heute lache ich bloß und winde mich los und

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