Zeit der Geheimnisse
den Füßen ab, und irgendwie geht es halbwegs.
Auf dem Eis ist Emily eine völlig andere als die, die ich aus der Schule kenne. Sie redet wie ein ganz normaler Mensch. Wir laufen auf unseren Schlittschuhen einmal ringsherum, dann holen wir Alexander ab, der sich immer noch an der Bande festhält. Wir nehmen ihn beide an einer Hand und ziehen ihn mit.
»Oh«, sagt er. »Ich mag das nicht. Ich mag das gar nicht.«
»Nicht mal schnell?«
»Schnell schon gar nicht«, sagt er und fällt hin.
Zusammen mit Emilys kleinem Bruder zieht er los, um am Kiosk Chips zu kaufen. Emily und ich drehen wieder eine Runde. Emily zeigt mir, wie man rückwärts fährt, und fast schaffe ich es. Und in der ganzen Zeit falle ich auch bloß zweimal hin.
»Du hast so einen hübschen Rock an, Molly«, sagt Emilys Mum. Sie kann auch Schlittschuh laufen. Mein Rock ist rot, meine Mum hat ihn mir genäht. »Er passt so gut zu deinen dunklen Locken.«
»Ich hasse meine Haare«, sage ich. »Ich wünschte, ich wäre blond.«
»Und ich wünschte, ich hätte Locken«, sagt Emily.
Anschließend gehen wir ins Café und essen Pommes frites, und ich bringe Emilys Mum das Spionagespiel bei, bei dem man herausbekommen muss, welche der Leute an den anderen Tischen in Wirklichkeit verkleidete Geheimagenten sind. Die zusammengekauerte alte Dame mit dem faltigen Gesicht und dem rosa Lippenstift gehört schon mal ganz sicher dazu – wieso sonst sollte jemand, der so klein und so verschrumpelt aussieht, zum Schlittschuhlaufen gehen?
»Oder sie ist eine Außerirdische«, sagt Emily, und wir kichern beide los.
»Benimm dich, Emily«, sagt ihre Mum, aber Alexander und mich lächelt sie an. »Ich bin so froh, dass Emily euch beide kennengelernt hat. Als sie mit der Schule angefangen hat, war es ganz schön schwer für sie.«
»Die Schule ist schrecklich«, sagt Alexander. Überrascht sehe ich ihn an. Ich dachte immer, Alexander ginge gern zur Schule. Ich dachte, alle gingen gern, bis auf mich (und vielleicht Hannah). Und außerdem gibt es eine ganze Menge, was mir an unserer Schule gefällt – Miss Shelley, der Kunstunterricht, Naturkunde, die Spiele, die wir alle zusammen spielen, unser Theaterstück, Emily, Alexander und …
»… wenn sie möchte?«
Emilys Mum sieht mich an.
»Was?«, frage ich.
»Ich sagte, das Schlittschuhlaufen scheint dir Spaß zu machen.«
»O ja.«
»Mir ist gerade etwas eingefallen«, sagt Emilys Mum. »Emily kommt jeden Mittwoch her. Es ist ein bisschen einsam für sie, weil sie hier die Einzige aus unserem Ort ist. Wenn deine Großmutter nichts dagegen hat, würden wir dich gern mitnehmen.«
Emily setzt sich kerzengerade auf. »Au ja!«, sagt sie. »Komm mit!«
»Und dich natürlich auch, Alexander«, sagt Emilys Mum, aber Alexander guckt nur ganz erschrocken.
»Magst du?«, fragt Emily. »Magst du, magst du?«
Ich sage nichts, ich denke nach. Darüber, wie es ist, Freunde zu haben. Darüber, wie es wäre, Pirouetten drehen zu können und richtig schnell laufen zu lernen. Dann könnte ich Eisläuferin werden, wenn ich groß bin, und es wäre völlig egal, dass ich nicht blond bin. Oder vielleicht werde ich auch Künstlerin, oder ich habe einen Laden, so wie Grandma, oder ich schreibe Bücher über all das Magische, das es auf der Welt gibt. Oder ich mache alles auf einmal. Ich kann machen, was ich will, denke ich, und ich spüre, wie meine Mundwinkel sich nach oben ziehen und zu einem so breiten Lächeln werden, dass mein ganzes Gesicht strahlt.
»Ja, bitte!«, sage ich.
Eine Märzblume
In Grandpas Garten gibt es Kaninchen. Ich sehe sie, wenn ich mein Fahrrad in der Dämmerung zum Schuppen schiebe. Leuchtende Augen, lange Ohren und eine weiße Schwanzspitze. Sie haben es auf Jacks Gemüsebeet abgesehen.
Der März ist da. Mit Regen und nassem Gras und vereinzelten jungen Blättern an den Eichen. Am Tag nach Emilys Party finde ich unter dem Baum im Garten die ersten Osterglocken. Emily-Osterglocken.
Dad bringt uns eine Schale mit lila Krokussen mit.
»Eine für dich, eine für Hannah und eine für eure Grandma, weil sie auf euch aufpasst.«
»Und was ist mit Grandpa?«, fragt Hannah. »Grandpa macht schließlich die ganze Arbeit!«
Vielleicht hat ja mein Junge im Wald diese Krokusse wachsen lassen. Ob er auch der Gott der Gartencenter ist? Und wenn nicht, wer dann? Macht er wirklich alle Blumen, die es auf der Welt gibt? Oder gibt es verschiedene Sommergötter für Australien und Afrika und
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