Zeit der Gespenster
zu legen. Ich habe sie also in die Apfelkiste gelegt, aber den Deckel offen gelassen. Ich dachte, soll er doch das Baby selbst begraben, wenn er es für richtig hält.
Als ich wieder ins Haus kam, saß er in seinem Arbeitszimmer und trank. Ich bin dann nach oben ins Bett. Und mitten in der Nacht hörte ich plötzlich ein Baby weinen. Ich bin aufgestanden und nach draußen gegangen, immer dem Weinen nach.« Sie schauderte. »Manchmal höre ich es noch heute in der Nacht, kurz bevor ich einschlafe. Ich bin zum Eishaus gegangen, wo das Weinen herkam. Kurz vor der Tür bin ich gegen die Beine von Cissy Pike gestoßen.« Rubys Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern. »Sie hing an einem Seil, das an einem Balken vom Vordach festgebunden war, ihre Augen waren weit geöffnet und hellrot … ich hab aufgeschrien. Ich dachte, der Professor hat sie umgebracht – und ich bin als Nächste dran. Ich wollte Reißaus nehmen, sofort – und da hörte ich es wieder. Das Weinen. Das Baby, das ich mit eigenen Augen tot hatte daliegen sehen, im Eishaus, in der Apfelkiste, schrie und strampelte.«
»Und Sie haben die Kleine mitgenommen.«
Ruby warf Ross einen Blick zu. »Ich hatte versprochen, mich um das Baby zu kümmern, falls irgendetwas passieren würde. Also hab ich das Baby aus der Kiste genommen, stattdessen einen Braten hineingelegt, den wir für eine Dinnerparty vorgesehen hatten, und den Deckel zugenagelt, genau wie der Professor es gewollt hatte. Dann bin ich mit dem Baby auf und davon.«
»Was ist aus der Kleinen geworden?«
Ruby schaute weg. »Sie war kränklich und ist auf dem Weg nach Baltimore gestorben.«
Ross dachte an Lia, an Lily, an Meredith. Und plötzlich wusste er, warum Ruby log. »Sie haben es ihr nicht erzählt«, sagte er leise.
Ihre Blicke trafen sich in jenem kleinen, engen Raum, in dem Worte keinen Platz finden. Nach all den Jahren, in denen das Geheimnis schwer auf ihr gelastet hatte, war Ross gekommen und bot ihr eine Schulter an. Aber dass sie sich ihm anvertraut hatte, bedeutete noch lange nicht, dass sie auch bereit war, es jemand anderem zu sagen.
Plötzlich ertönten trappelnde Schritte, und das kleine Mädchen, das Ross Tage zuvor in Begleitung seiner Mutter gesehen hatte, kam ins Wohnzimmer gelaufen. »Granny, wir sind wieder da.«
Gleich darauf erschien Meredith in der Tür, gefolgt von Tajmalla. »Wie geht’s dir?«, fragte sie Ruby, bevor ihre Augen sich auf Ross richteten. » Sie schon wieder.«
Ross stand auf. Er wollte sich vorstellen, doch die fast unheimliche Ähnlichkeit dieser Frau mit Lia Pike verschlug ihm die Sprache.
»Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie mit meiner Großmutter zu schaffen haben«, sagte Meredith, »aber ich glaube kaum, dass …«
»Sein Name ist Ross, Liebes«, fiel Ruby ihr ins Wort. »Er will dich zum Essen abholen.«
»Was?«, entfuhr es Ross und Meredith gleichzeitig.
»Ich weiß genau, dass ich dir das gesagt habe. Letzte Woche.«
»Letzte Woche warst du im Krankenhaus und hast mit Leuten geredet, die gar nicht im Zimmer waren.«
Ruby lächelte sie verkniffen an. »Ross ist ein guter Freund … einer alten Freundin von mir. Und ich hab ihm schon so viel von dir erzählt.«
Ross spürte, wie Meredith ihn prüfend ansah und alles andere als zufrieden war. Dann schaute sie die Frau an, die sie für ihre Großmutter hielt – eine Frau, die fast gestorben wäre –, und ihr Blick wurde weicher. War das ein Trick von Ruby, um Ross loszuwerden? Wollte sie ihn auf diese Weise drängen, Meredith die Wahrheit zu sagen? Oder wollte sie ihm zu verstehen geben, warum sie ihr nicht selbst die Wahrheit gesagt hatte?
Jedenfalls wusste Ross, dass er mit dieser Frau ausgehen würde. Und sei es auch nur, um ihr gegenübersitzen und das Gesicht anstarren zu können, das ihm nicht mehr aus dem Sinn ging.
»Würden Sie mich, ähm, kurz entschuldigen«, sagte Meredith höflich zu Ross und wandte sich Ruby zu. Im Flüsterton, aber für Ross’ Ohren nicht leise genug, sagte sie: »Ruby, er ist nicht mein Typ …«
»Meredith, um einen Typ zu haben, muss man ab und zu mal mit einem ausgehen.« Ruby lächelte. »Lucy und Tajmalla können mir Gesellschaft leisten.«
»Auf einen Kaffee«, hörte Ross sich sagen. »Nur eine Tasse.«
Meredith wandte sich wieder an Ruby. »Wenn es dir wieder besser geht, erinnere mich bitte daran, dir den Hals umzudrehen«, murmelte sie und sagte dann zu Ross: »Nur eine Tasse.«
Ross blickte Ruby an, aber ihre Miene war
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