Zeit der Gespenster
ganze Gesicht.
So ähnlich wie Lia.
Meredith ging jeden Tag um drei, um Lucy vom Sommerfreizeitlager abzuholen, und war gegen halb fünf wieder im Krankenhaus. Ross nutzte diese Zeitspanne für seine Besuche bei Ruby. Als er am dritten Tag das Zimmer betrat, saß Ruby in einem Rollstuhl am Fenster.
»Na, wie ich sehe, geht’s bergauf«, sagte Ross.
»Ich wäre gern gleich losgelaufen, aber die Schwester meinte, ich soll erst mal hiermit anfangen.«
»Sehr vernünftig.« Er ließ ein kleines eingepacktes Geschenk in ihren Schoß fallen. »Machen Sie es auf.«
»Das wäre aber wirklich nicht nötig gewesen«, zierte Ruby sich zunächst. Doch dann löste sie die Schleife und das Papier. Zum Vorschein kam ein Kartenspiel. »Ich hab früher mal Poker gespielt«, sagte Ruby. »Mit den Kolleginnen in der Fabrik, in den Zigarettenpausen.«
»Ich hab es vor Kurzem erst gelernt. Von meinem Neffen.«
Sie fing an, die Karten zu mischen, bewegte ihre knotigen Hände verblüffend flink. »Dann will ich am Anfang mal Gnade walten lassen. Wie hoch ist der Einsatz?«
»Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie eine echte Spielerin sind«, sagte Ross scherzhaft. »Beim nächsten Mal bring ich genügend Bares mit.«
»Hoffentlich keine leere Versprechungen.«
Ruby mischte nur weiter die Karten.
»Es gibt noch was außer Geld, worum wir spielen könnten.«
Ruby zog die Stirn kraus.
Ross blickte ihr in die Augen. »Wir könnten um die Wahrheit spielen?«
Plötzlich schien das Zimmer selbst die Luft anzuhalten. Ruby ordnete die Karten fein säuberlich zu einem Packen. »Aber dann gewinnt keiner«, erwiderte sie.
»Ruby«, sagte er. »Bitte.«
Sie blickte ihn lange an. Dann mischte sie die Karten. »Nennen Sie den Einsatz.«
»Ich beantworte Ihnen eine Frage«, fing Ross an.
Ruby nickte und teilte für sie beide je zwei Karten aus, eine mit der Bildseite nach unten. Ross hatte eine Pik Zehn, Ruby eine Herzdame. Sie hob eine Augenbraue, wartete, dass Ross erhöhte. »Zwei Antworten«, sagte Ross.
»Ich gehe mit.« Sie teilte zwei weitere Karten mit der Bildseite nach unten aus. Ross bekam eine Kreuz Zwei, Ruby die Karodame.
»Sie gewinnen«, sagte Ross.
»Hab ich doch gesagt.«
Er blickte auf sein Blatt. »Drei Fragen nach Ihrer Wahl.«
Ruby zog wieder mit und teilte erneut zwei weitere Karten für jeden aus – Ross eine Kreuz Sechs und ein Kreuzass, Ruby zwei Könige.
»Ich erzähl Ihnen alles!«, erhöhte Ruby und fügte dann hinzu: »Ich will sehen.« Ross nickte, und beide drehten sie ihre Karten auf dem Tisch um. Ross sah, dass Ruby drei Herzen hatte. »Schlägt das eine Kreuz Zwei?«
»Eigentlich nicht«, sagte Ruby. »Aber Ihr Flush schlägt meine zwei Paare.«
»Obwohl Sie Leute mit einer Krone auf dem Kopf haben?«
»Ja. Anfängerglück, schätze ich.« Sie nahm seine Karten, und Ross sah, dass ihre Hand zitterte. »Also dann«, sagte sie und sah ihn an.
»Also dann«, erwiderte er leise.
Eines von den Geräten, an die sie angeschlossen war, fing an zu piepen, weil die Infusionslösung fast zu Ende war. Jeden Augenblick würde eine Krankenschwester hereinkommen. Und bis die Lösung ausgetauscht war, wäre Meredith sicherlich schon mit Lucy zurück. »Ich werde morgen entlassen«, sagte Ruby.
»Dann muss ich Ihre Spielschulden eben bei Ihnen zu Hause eintreiben.«
»Ich werde Sie erwarten.« Er stand auf und war schon auf dem Weg zur Tür, als die Krankenschwester hereinkam. »Ross«, rief Ruby. »Danke für die Karten.«
»Gern geschehen.«
»Ross!« Er drehte sich um, die Hand schon an der Tür. »Ich hab Sie gewinnen lassen«, sagte Ruby.
Ross lächelte. »Ich weiß.«
Shelby träumte von Blut, das dick wie Sirup eine Straße überschwemmte, als das Telefon sie weckte. »Ach, Mist«, sagte Ross, als sie sich meldete. »Du schläfst ja mittags. Ich hab nicht daran gedacht.«
Sie saß augenblicklich kerzengerade im Bett. »Ross? Geht’s dir gut? Ich hatte Angst, du wärst tot!«
»Ich bin nicht tot. Ich bin bloß in Maryland.« Ross schien ehrlich verdattert. »Wie kommst du denn auf so was?«
»Oh, ich weiß auch nicht – wahrscheinlich bloß eine blöde Fehlinformation. Zum Beispiel dein Abschiedsbrief und der Umstand, dass du schon mal versucht hast, dich umzubringen?«
»Das war doch kein Abschiedsbrief. Ich meine, nicht so einer. Ich hab bloß auf die Schnelle Auf Wiedersehen sagen wollen.« Als Shelby schwieg, fügte Ross bekümmert hinzu: »Aber ich kann dich verstehen, tut mir leid.
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