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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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verriet, dass sie eine nahe Verwandte sein musste.
    Als die Krankenschwestern und Ärzte sich wieder entfernten, spähte Ross ins Zimmer. »Er ist ein alter Bekannter«, hörte Ross noch, bevor die Tür zufiel.
    Eines war klar: Ruby Weber war keine alte Bekannte von ihm.
    Und sie hatte das Baby mitgenommen, als sie damals die Pikes verlassen hatte.

    Shelby wusste bereits, dass man eine Person erst dann als vermisst melden konnte, wenn sie mindestens vierundzwanzig Stunden verschwunden war; jetzt erfuhr sie zusätzlich, dass Burlington fünf größere Ausfallstraßen hatte und dass man vom Flughafen nach Chicago, Pittsburgh, Philadelphia, New York, Boston, Cleveland oder Albany fliegen konnte.
    Und dass tagtäglich mehr als 2000 Menschen als vermisst gemeldet wurden.
    Ihr Bruder war einer von ihnen.
    Sie hatte seinen Zettel nicht mehr losgelassen, seit sie ihn fünf Stunden zuvor gefunden hatte. Die Innenseite ihrer Hand war inzwischen von der Tinte tätowiert, ein Tagebuch des Verlustes. Sie hatte Eli angerufen, und er war sofort gekommen und hatte versprochen, jeden Quadratmeter von Comtosook abzusuchen und die Kollegen in Burlington auf Ross anzusetzen. Aber Shelby wusste, dass Ross sich einfach in Luft auflösen würde, wenn er nicht gefunden werden wollte.
    Das Telefon klingelte, und Shelby rannte aus Ross’ Zimmer über den Flur zu dem Apparat neben ihrem Bett. »Shelby?«
    »Eli?« Sie war enttäuscht.
    »Hat er angerufen?«
    »Nein.«
    »Schade … lass die Leitung frei, damit er durchkommt, wenn er sich meldet.«
    Sie liebte ihn für seine Zuversicht. »Mach ich«, versprach sie, und als sie auflegte, sah sie einen unglücklich dreinschauenden Ethan in der Tür ihres Zimmers stehen.
    »Ich glaube, ich bin schuld«, gestand er.
    Shelby klopfte aufs Bett, damit er sich neben sie setzte. »Nein, Ethan, ganz bestimmt nicht. Früher hab ich auch gedacht, ich wäre schuld, weil ich irgendetwas nicht geleistet hatte, was Ross von mir gebraucht hätte.«
    »Nein, das meine ich nicht.« Sein Gesicht verzog sich. »Wir haben neulich Abend drüber gesprochen – übers Sterben.«
    Shelby wandte sich ihm langsam zu. »Was hat er gesagt?«
    »Dass er ein Feigling wäre.« Ethan zupfte am Saum der Bettdecke. »Ich habe ihn nach seinen Narben gefragt. Vielleicht musste er ja ständig dran denken, nachdem ich ihn wieder erinnert hatte.«
    Sie spürte, wie ihre Schultern sich entspannten. »Ethan, du hast Onkel Ross nicht auf diese Gedanken gebracht. Die hatte er längst im Kopf, noch bevor er herkam.«
    »Warum tut er so was?«, platzte Ethan heraus. »Wieso will er unbedingt sterben?«
    Shelby überlegte. »Ich glaube nicht, dass er sterben will. Ich glaube, er will nicht leben.«
    Sie saßen eine Weile schweigend da. »Er hat auch gesagt, er besorgt mir ein Mädchen.«
    »Er tut was ?«
    Ethan wurde rot. »Zum Küssen. Damit ich weiß, wie das so ist.«
    »Aha. Und wo will dein Onkel dieses Mädchen besorgen?«
    »Weiß nicht. Aber es gibt doch welche, die so was für Geld machen, oder?« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht ist er ja jetzt bloß auf der Suche nach einem Mädchen.«
    Der Gedanke war lange nicht so beängstigend wie die Vorstellung, dass Ross gerade irgendwo ganz allein starb. »Hoffen wir’s«, sagte Shelby.

    Zwei Nächte schlief Ross auf dem Rücksitz seines Wagens auf dem Parkplatz von Wal-Mart. Tagsüber trieb er sich im Krankenhaus herum und schlüpfte zu Ruby ins Zimmer, wenn ihre Enkelin – Meredith, wie er inzwischen erfahren hatte – nicht da war. Ross drängte Ruby nicht, ihm mehr über die Pikes zu erzählen, und Ruby tat es nicht von sich aus. So schlichen sie um den heißen Brei und erzählten sich stattdessen gegenseitig aus ihrem Leben. Ross mochte Ruby – sie hatte einen scharfen Verstand, nahm kein Blatt vor den Mund und war noch dazu Baseballfan. Er wusste, dass ihre Gespräche für sie beide wichtig waren – Ruby brauchte die Zeit, um zu entscheiden, ob sie ihm die Geschichte anvertrauen konnte, die sie wie einen Stein in der Brust trug, und Ross lernte die Frau kennen, die Lias Baby großgezogen hatte.
    Sie sprach nicht über Lia oder das Baby, aber sie erzählte ihm von Meredith, der alleinerziehenden, berufstätigen Mutter, die zu viel arbeitete. Von Lucy, die sich vor ihrem eigenen Schatten fürchtete. Sie musste lachen, wenn Ross den Kardiologen nachahmte, der einen Gang hatte wie ein kleiner Junge mit einer vollen Windel. Und immer wenn Ross zu ihr kam, strahlte Ruby übers

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