Zeit der Gespenster
Größenwahn leiden und eine Herrenrasse erschaffen wollen. Drittens, bevor Sie mich kritisieren, sollten Sie mal mit einer Frau sprechen, die drei Kinder durch Leukämie verloren hat und jetzt flehentlich um ein Kind bittet, das ihr nicht wegstirbt.« Meredith schüttelte den Kopf. »An meiner Bürotür hängt ein Schild mit der Aufschrift Die letzte Hoffnung . Das ist es, was die Eltern, die zu mir kommen, in mir sehen. Und es ist unbeschreiblich, wenn dieselben Eltern dann Monate später ein gesundes Baby haben.«
»Und wer definiert, was krank ist?« Ross rührte seinen Kaffee um. »Mein Neffe hat XP. Haben Sie schon mal davon gehört?«
»Selbstverständlich.«
»Er ist die Sorte Kind, das auf Empfehlung der genetischen Präimplantationsdiagnostik ausgesondert worden wäre. Aber Ethan ist der cleverste, aufgeweckteste und tapferste Junge, den ich kenne. Und auch wenn er nur zehn oder dreizehn oder dreißig Jahre clever, aufgeweckt und tapfer sein kann, ist das nicht besser, als gar nicht gelebt zu haben? Wer will das bestimmen?«
»Ich nicht«, stimmte Meredith zu. »Das ist Sache der Eltern.«
»Aber es gibt doch jede Menge Eltern da draußen, die auf Ethan gern verzichtet hätten …«
» … der zu dem Zeitpunkt noch gar nicht Ethan war«, wandte Meredith ein. »Gerade mal ein Klumpen Zellen.«
»Egal. Entscheidend ist, Eltern ziehen bei ganz unterschiedlichen Dingen die Grenze. Was, wenn die Präimplantationsdiagnostik feststellt, dass eine bestimmte Krankheit erst im Alter von über dreißig oder vierzig ausbricht? Oder wenn sie lediglich eine Anfälligkeit für Herzerkrankungen oder Krebs feststellt … Was, wenn man irgendwann vorhersagen kann, dass ein Kind später einmal suizidgefährdet ist?« Ross schlug die Augen nieder. »Haben Menschen das Recht, auch solche Embryos auszusondern?«
Meredith zog die Augenbrauen hoch. »Und wenn gehörlose Eltern sich der Präimplantationsdiagnostik bedienen würden, um ein Kind mit der gleichen Erbvoraussetzung bekommen zu können? Das wäre dann das Fördern einer Behinderung.«
»Sie können mir nicht erzählen, dass das die meisten Ihrer Kunden wollen.«
»Nein«, gab sie zu. »Aber es kommt vor. Und genau deshalb ist meine Arbeit nicht das Böse schlechthin. Was ist falsch daran, wenn eine Mutter von vornherein weiß, wie ihr Kind werden wird?«
»Und was ist, wenn ein Kind herausfindet, dass die Umstände seiner Geburt ganz anders sind, als es gedacht hat?«, fragte Ross vorsichtig.
»Die Eltern müssen entscheiden, ob sie es ihrem Kind erzählen oder nicht. Wenn alles gut läuft, ist das Kind ohnehin glücklich … weil es Eltern hat, die es so lieben, wie es geworden ist.«
»Liebe hat nichts mit Wissenschaft zu tun«, sagte Ross. »Bei Liebe gibt es kein weil , da gibt es nur ein bedingungslos .«
»Aber warum so ein Risiko eingehen?«, hielt Meredith ihm entgegen. »Können Sie denn ehrlicherweise behaupten, dass es an Ihnen nichts gibt, von dem Sie sich wünschen, es wäre vor Ihrer Geburt verbessert worden?«
Ross antwortete nicht. Dann fragte er: »Habt ihr das Gen für Glücksempfinden schon gefunden?«
Sie erwiderte nichts, sondern blickte ihn schweigend an. Das einzige Geräusch war das leise Wischen des Mops über den Fliesenboden hinter ihnen. In diesem Augenblick erkannte Meredith, was so anders war an Ross Wakeman – in den fünf Stunden, die sie jetzt mit ihm zusammensaß, war das der erste kurze Einblick, den er ihr in sein Inneres gewährt hatte. Sie hatten über Lucy gesprochen, über Rubys Gesundheitszustand, über Meredith’ Arbeit … und kein bisschen über ihn. Meredith konnte sich nicht an eine einzige Verabredung mit einem Mann erinnern, der nicht die ganze Zeit über sich gesprochen hatte. Ross – ja, Ross tat genau das, was sie normalerweise tat.
Sie wusste nichts über diesen Mann, der sie ganz durcheinanderbrachte, außer dass er einen Neffen mit XP hatte, ihre Großmutter kannte – und ihren Puls ein wenig beschleunigte, wenn er lächelte. »Entschuldigen Sie«, sagte Meredith, »jetzt haben wir fast nur über mich gesprochen.«
»Ich wollte möglichst viel über Sie erfahren.«
»Ich würde auch gern etwas über Sie erfahren«, erwiderte Meredith.
»Da gibt es leider nicht viel Interessantes.« Ross nahm eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an.
Sie wedelte eine Rauchwolke weg. »Die Dinger bringen Sie noch um.«
»Schön wär’s.«
»Wieso?«
»Weil ich nicht sterben kann«, sagte
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