Zeit der Gespenster
ist, dann ist damit eine riesige Verantwortung verbunden, die Pflicht einer hundertprozentigen Genauigkeit. Aber in diesem Fall macht das Thema der sich wiederholenden Geschichte ein Eintauchen in die Vergangenheit ganz besonders notwendig. Es fiel mir sehr schwer zu entscheiden, ob ich die richtigen Namen der für das Eugenik-Projekt Verantwortlichen benutzen sollte – wie Harry Perkins, zum Beispiel. Er taucht im Buch auf, allerdings als eine Person über die gesprochen wird, die aber nie selbst in Erscheinung tritt. Die Protagonisten sind alle frei erfunden.
Die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart basiert vor allem auf den Charakteren von Lia und Meredith. Lias Verbindung ist offensichtlich, Merediths Anknüpfungspunkte sind eher intellektuell. Als Präimplantationsdiagnostikerin ist sie die moderne Version einer früheren Eugenikerin: eine Frau, die die Wissenschaft einsetzt, um Gutes zu tun, indem sie Techniken anwendet, die – wenn sie in die falschen Hände geraten –, verheerende Folgen haben können. Wer entscheidet, was ›optimal normal‹, ›optimal‹ oder ›optimal wertvoll‹ ist? Nicht der Wunsch der Eugeniker, eine besser Welt zu schaffen war falsch – es war die Definition von ›besser‹, die falsch war.
Von all meinen Büchern war das Schreiben bei diesem – erzählerisch gesehen – am schwierigsten. All diese Anknüpfungspunkte im ersten Teil so zu arrangieren, dass ich sie im letzten Teil schließlich auflösen konnte. Es gibt so viele überraschende Wendungen in »Zeit der Gespenster«, und dennoch musste es funktionieren, denn wenn man über historische Ereignisse schreibt, ist das Bedürfnis für eine Schlüssigkeit des Erzählten beim Leser besonders groß. Sie lesen das Buch und glauben zu wissen, was kommt … und in Wahrheit wissen Sie es nicht.
ANMERKUNG
Die Handlung dieses Buches ist frei erfunden. Das »Vermont Eugenics Project« aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts jedoch nicht. Es ist ein Kapitel der Geschichte, das erst kürzlich neu entdeckt wurde und das bei vielen Vermontern mit ganz unterschiedlichem kulturellen Hintergrund bis heute große Trauer und Scham auslöst. Die Archive der Eugenik-Erhebung befinden sich heute in Middlesex, Vermont – die Fälle, in die ich dort Einblick gewinnen konnte, dienten mir als Vorlage für etliche Beispiele im mittleren Teil meines Buches.
Spencer und Cissy Pike, Gray Wolf, Harry Beaumont und Abigail Alcott sind fiktive Figuren, aber Henry F. Perkins hat es tatsächlich gegeben. Wie Nancy Gallagher auf ihrer Website »Vermont Eugenics: A Documentary History« (www.uvm.edu/~eugenics) erwähnt, war er Professor für Zoologie an der University of Vermont und organisierte die Eugenik-Erhebung Vermont in Verbindung mit seinem Seminar über Vererbungslehre. Er glaubte, dass der wachsende Anteil von Problemfällen in der Bevölkerung Vermonts durch Forschung, Bildung und entsprechende Gesetzgebung reduziert werden könnte. Seine führende Rolle in dem Bereich trug letztlich mit zur Verabschiedung des Sterilisationsgesetzes von 1931 bei, und er unterrichtete weiter Vererbungslehre und Eugenik, bis er sich im Jahre 1945 zur Ruhe setzte.
Der offizielle Titel des Gesetzes lautete zwar »Law for Human Betterment by Voluntary Sterilization«, aber es ist zweifelhaft, inwieweit wirklich von »freiwilliger« Sterilisation die Rede sein konnte. Es liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass ein Mensch bereits sterilisiert werden konnte, wenn nur zwei Ärzte ihre Einwilligung gaben. Während der Kriegsverbrecherprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg führten Naziwissenschaftler amerikanische Eugenik-Projekte als Grundlage ihrer eigenen Pläne für »rassische Hygiene« an.
In den Sechziger- und Siebzigerjahren nahm die amerikanische Bürgerrechtsbewegung die Sterilisationsgesetze einzelner US-Staaten aufs Korn, mit der Folge, dass etliche aufgehoben wurden. Andere wurden überarbeitet, von ihrer eugenischen Sprache bereinigt und so formuliert, dass die Rechte des Individuums besser geschützt waren. Mehrere Staaten haben die amerikanische Eugenik-Bewegung inzwischen offiziell verurteilt und ihr Bedauern über ihre Rolle dabei zum Ausdruck gebracht. Vermont hat das nicht getan.
Henry Perkins starb 1956, kurz nachdem die Struktur der DNA entdeckt worden war. Reproduktionstechnologie und genetische Diagnose sind nichts anderes als Eugenik im neuen Gewand. Und eine Laune des Schicksals hat dafür gesorgt,
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