Zeit der Gespenster
schon entlassen worden und hatten Lucy mitgenommen. Doch als Ross bei ihr zu Hause anrief, meldete sich niemand, und der Anrufbeantworter war abgeschaltet. Er hätte bei Eli angerufen, aber ihm fiel die Privatnummer nicht ein, falls er sie überhaupt je gewusst hatte. Der Neurologe, der Ross untersucht hatte, nachdem seine Kopfverletzungen genäht worden waren, hatte ihm gesagt, dass er mit Gedächtnislücken rechnen müsse und dass es ungewiss sei, ob sich das irgendwann wieder geben würde. So konnte er sich beispielsweise absolut nicht erinnern, was er alles getan hatte, bevor er nach Hause gekommen war und Meredith in der Küche angetroffen hatte, während sie verzweifelt versuchte, Shelby zu erreichen. Er wusste nicht, woher die dünnen, weißen Narben an seinem Handgelenk stammten.
Aber an Lias Gesicht erinnerte er sich. Er hätte dafür sterben können, es wiederzusehen, und anscheinend war er auch dafür gestorben. Er konnte ihr Bild heraufbeschwören, das von ihr und das von Aimee, als stünden die beiden nur einen Meter von ihm entfernt. Ross wusste, dass er dort hätte bleiben können – wo immer er gewesen war. Aber noch größer als der Wunsch, Aimee in seinen Armen zu halten, Lia überallhin zu folgen, wohin sie ihn führte … war der Wunsch gewesen, bei seiner Schwester zu bleiben. Seinem Neffen. Vielleicht Meredith.
Ross hatte so viele Jahre nach irgendetwas gesucht, und nie zuvor war ihm klar gewesen, dass das Finden vielleicht nicht so wichtig war wie die Suche. Ein Leben wurde nicht durch den Augenblick des Todes bestimmt, sondern durch all die anderen Augenblicke, die man gelebt hatte.
Während er noch Meredith’ Gesicht betrachtete, rann plötzlich eine Träne über ihre Wange. Ihre Augen öffneten sich einen Spalt, und sie sah Ross an. »Lucy«, flüsterte sie.
»Es geht ihr gut.«
Als Meredith klar wurde, wo sie war, fuhr sie erschrocken zusammen. »Du bist ein Geist.«
Er musste lächeln. »Nicht mehr.«
»Das Dynamit ist in deiner Hand explodiert. Ich hab’s gesehen«, sagte sie. Und dann fügte sie leiser hinzu: »Die haben mir gesagt, dass du tot bist.« Sie wollte sich aufrecht hinsetzen, doch als sie ihr Bein dabei leicht bewegte, verdrehte sie vor Schmerzen die Augen.
»Bleib ganz ruhig liegen.« Er betrachtete ihr Gesicht, die feine Narbe am Haaransatz, die er zuvor nicht bemerkt hatte. »Du hast dir das Bein gebrochen, das du dir schon mal gebrochen hattest, bei einem Autounfall. An sechs Stellen. Wadenbein und Schienbein waren zertrümmert und wurden genagelt.«
»Ich hab dir nie erzählt«, sagte Meredith argwöhnisch, »dass ich mal einen Autounfall hatte.«
Er setzte sich auf die Bettkante. »Du saßest in einem grünen Honda und hattest ein schwarzes Kleid an«, sagte Ross leise. »Du hattest da eine Wunde.« Er berührte die Stelle an ihrer Stirn. »Deine Schuhe sind nie gefunden worden.«
»Du willst mir doch hoffentlich nicht erzählen, dass du auch übersinnliche Fähigkeiten hast«, sagte Meredith schwach.
»Nein«, erwiderte Ross. »Ich will dir erzählen, dass ich dabei war.«
Er blickte sie an, bis ihre Augen sich kaum merklich weiteten. »Zwei Mal«, sagte sie benommen und griff nach seiner Hand. Ihre Lider senkten sich. »Supermann.«
Er wartete, bis Meredith’ Atem ruhig und gleichmäßig ging, dann schlossen sich seine Finger um ihre. »Vielleicht«, gab er zu.
In den letzten vier Wochen war Lucy eine richtige Draufgängerin geworden. Andauernd kletterte sie auf irgendwelche Dächer, streckte während der Fahrt den Kopf zum Autofenster hinaus und fürchtete sich auch nicht vor Gruselfilmen. Ethan wusste, dass es seine Schuld war. Der Psychoonkel, der sie beide wegen etwas behandelte, das sich Posttraumatische Belastungsstörung nannte, meinte, das sei nur eine Reaktion auf ein Sterbeerlebnis. Aber Ethan wusste es besser.
Er zog die langen Ärmel seines Sweatshirts nach unten und die Baseballmütze tiefer ins Gesicht. Hier vor dem Krankenhaus fühlte er sich nicht wie ein Mutant, weil andere Leute mit allen möglichen Schläuchen und Beuteln am Leib herumliefen. Außerdem war er sowieso nicht mehr die Hauptattraktion der Familie. Diese Ehre gebührte jetzt seinem Onkel Ross, den man für klinisch tot erklärt hatte und der aller Welt davon erzählen konnte.
Es ging ihm gut, das hatte er zumindest per Liveschaltung aus seinem Krankenhauszimmer in allen möglichen Talkshows erzählt. Er war einen Monat lang medizinisch beobachtet und untersucht
Weitere Kostenlose Bücher