Zeit der Gespenster
Eli gesagt, »dass Sie es sich anders überlegen und die alte Akte doch noch wieder öffnen wollen.« Elis wachsamer Blick hatte bereits das Skateboard registriert, das an der Wand lehnte, und das Paar gelbe Gartenschuhe gleich daneben. Er war überrascht. Ross Wakeman hatte auf ihn nicht den Eindruck eines Familienmenschen gemacht.
Schließlich wurde die Tür entriegelt, und eine ängstliche Stimme fragte: »Ist was passiert?«
Doch Eli war nicht in der Lage zu antworten. Er starrte sprachlos die Frau an, die er in seinen Träumen gesehen hatte.
Ethan tauchte die Hand in den Schaum und pustete ihn behutsam weg. Als das Licht in dem Spukhaus ausgegangen war, hatte er so etwas Ähnliches gerochen. Er stand auf und schaltete das Licht aus, tauchte das Badezimmer in Dunkelheit. Mit dem Blumenduft in der Luft und der drückenden Feuchtigkeit war es jetzt genau wie in jener Nacht.
Sein Onkel hatte ihn gefragt, ob er irgendwas gesehen hatte, und Ethan hatte Nein gesagt, er habe sich nur versteckt. Doch einmal hatte er aus einem Versteck hervorgelugt, und da war etwas gewesen. Eine Bewegung im Dunkeln. Zuerst hatte er gedacht, es wäre sein Onkel, der zurückkam, aber er war es nicht. Ethan hatte angestrengt auf die Kontur dort vor ihm geblickt, dünn wie eine Angelschnur. Ein Gesicht oder vielleicht doch kein Gesicht, er konnte es nicht genau sagen, damals genauso wenig wie jetzt.
Nur einer Sache war Ethan sich absolut sicher: Dieser Blumenduft war da gewesen und dann verschwunden. Was immer in dem Zimmer gewesen war, es war Onkel Ross nach draußen gefolgt und nicht umgekehrt.
Ein Blitzstrahl durchbrach den Bann. »Du bist zurückgekommen«, sagte Ross. Er bemerkte gar nicht, dass Lias Augen rot und entzündet waren und dass sie den Kopf schüttelte. Sie war zu ihm zurückgekehrt, und allein deshalb würde er alles tun, um sie bei sich zu behalten. In diesem Moment war er sicher, dass er es mit ihrem Mann würde aufnehmen können. Dass er sogar dem Donner Einhalt gebieten könnte, wenn nötig.
»Ich bin gekommen, um Lebewohl zu sagen«, entgegnete Lia.
Ross wehrte den Satz ab wie einen Schlag. »Nein.« Sein Haar war tropfnass, und der Regen rann ihm übers Gesicht. Er wusste nicht, wie er Lia begreiflich machen sollte, dass eine Trennung eine gemeinsame Entscheidung war, dass ein Mensch einen anderen nicht verlassen konnte, wenn der ihn nicht gehen lassen wollte. Und weil ihm die Worte fehlten, streckte er die Arme nach ihr aus.
Ross nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. Er glaubte, ihre Unsicherheit und ihren Schmerz zu schmecken. Sie musste doch die Leere in seinem Inneren spüren – und dass nur sie diese Leere auszufüllen vermochte.
Das Gewitter wurde stärker, Blitze zuckten, und der Donner ließ den Boden vibrieren. Lia riss sich von ihm los, sah ihn mit großen Augen an. »Warte«, sagte Ross, doch sie wandte sich ab und lief durch den Wald davon.
Er folgte ihr wie ein Jäger, die Augen auf das Weiß ihres Kragens gerichtet. Sie rannte über die nasse, schneebedeckte Lichtung, zwischen den Erdhügeln hindurch, die aus dem Nichts wieder aufgetaucht waren, und verschwand zwischen den Bäumen.
Auf diesem Teil des Grundstücks war Ross noch nicht gewesen, zumindest konnte er sich nicht erinnern. Seine Lunge schmerzte bei jedem keuchenden Atemzug, aber er lief weiter. Lia war in einen schmalen Pfad eingebogen. Dornen verfingen sich in Ross’ Schnürsenkeln, zerkratzten ihm die Knöchel und gaben dann wundersamerweise nach. Die Erde unter seinen Füßen war getaut, ein kleines Fleckchen, bedeckt mit Dutzenden zertrampelter weißer Rosen.
Auch Lia blickte nach unten auf die Blüten, aber sie blieb nicht stehen. Und Ross, der sie nicht aus den Augen ließ, sah ihre Beine direkt durch zwei Grabsteine gleiten, gegen die er einen Moment später mit dem Fuß prallte, sodass er mit dem Kopf voran in den Schlamm stürzte.
Atemlos und benommen kam er auf die Knie. Beim nächsten Blitz konnte er die Namen auf den Grabsteinen entziffern. LILY PIKE, 19. SEPTEMBER 1932. Und in größeren Buchstaben: CECELIA BEAUMONT PIKE, 9. November 1913 – 19. SEPTEMBER 1932.
Cissy Pike. Cecelia. Lia.
Ross hatte von Geistern gehört, die nicht wussten, dass sie Geister waren. Er hatte Erforscher von paranormalen Phänomenen kennengelernt, die von Geistern gebissen, geschlagen, geboxt und gestoßen worden waren. Er war immer davon ausgegangen, dass der erste Geist, den er sehen würde, durchsichtig wäre, aber
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