Zeit der Gespenster
wenn genug Energie zur Verfügung stand, konnten Geister auch in körperlicher Form erscheinen.
Ross, der immer unter Schlaflosigkeit litt, hatte nach seiner Begegnung mit Lia geschlummert wie ein Baby. Er hatte in ihrer Gegenwart gefröstelt. Das war körperliche Anziehungskraft im elementarsten Sinne gewesen: Ein Geist hatte ihm seine Wärme entzogen.
»Ross«, sagte Lia, und er hörte das Wort im Geist, unausgesprochen. »Ross?« Über den Grabstein, ihren Grabstein, hinweg streckte sie ihm die Hand entgegen.
Noch während er nach ihr griff, wusste er, dass ihm das nur Schmerz bringen würde. Von Lias Fingern stieg Kälte seinen Arm hinauf. Ihre Gesichtszüge wurden durchsichtig. Ross wischte sich den Regen aus dem Gesicht und zwang sich hinzusehen, damit er diesmal genau den Augenblick mitbekam, in dem er zurückgelassen wurde.
TEIL ZWEI
1932
Es gibt zwei Möglichkeiten des Irrtums.
Die eine ist zu glauben, was nicht wahr ist,
die andere ist, nicht zu glauben, was wahr ist.
SØREN KIERKEGAARD
FÜNF
4. Juli 1932
Fließendes Wasser reinigt sich selbst. Der Strom des Keimplasmas scheint das nicht zu tun.
H. F. Perkins:
Lehren aus der Eugenik-Erhebung von Vermont: Erster Jahresbericht 1927
Einen Tag nachdem ich versucht habe, mich umzubringen, sagt Spencer, dass wir zu einem Straßenfest in Burlington fahren. Er sagt es mir, während er mir das Handgelenk neu verbindet. »Da gibt es eine Wahrsagerin, Cissy«, sagt er. »Feuerschlucker und Gaukler. Und es gibt allen möglichen Schnickschnack zu kaufen.« Dann kommt er zum eigentlichen Grund, warum wir zu dem Fest fahren: »Dein Vater«, sagt Spencer, »will sich dort mit uns treffen.«
Obwohl es draußen so heiß ist, dass Löwenzahn und Sonnenhut die Köpfe hängen lassen, hilft er mir in meine langärmelige weiße Bluse, weil man dann den Verband nicht sieht. »Es braucht keiner zu wissen, was passiert ist«, sagt er ruhig, und ich starre auf den Scheitel in seinem Haar, bis ich den rosa Schimmer nicht mehr ertragen kann und wegschaue. »Du bist wieder schlafgewandelt, mehr nicht. Du hast gar nicht gemerkt, was du tust.«
Für Spencer ist die Fassade, die man der Welt zeigt, wichtiger als das, was darunterliegt. Der Zweck heiligt die Mittel. »Komm schon, Cissy«, sagt er liebevoll. »Enttäusch mich nicht.«
Nicht mal im Traum würde ich das tun. Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Na schön«, sage ich.
Am liebsten würde ich sagen: Nenn mich nicht Cissy. Das ist ein Name für Heulsusen, wie eine Prophezeiung, und sieh dir an, was aus mir geworden ist. Am liebsten würde ich sagen: Meine Mutter hat mir den Namen Cecelia gegeben, und der ist schön, ein Fluss von Silben. Einmal, als mir der Brombeerwein zu Kopf gestiegen war, den ich bei einem Fakultätsessen getrunken hatte, habe ich zu meinem Mann gesagt, dass ich Lia genannt werden möchte. »Leah?«, fragte er kopfschüttelnd. »Aber das ist doch die Frau, die Jakob nicht gewollt hat.«
Er hilft mir auf, weil meine Schwangerschaft ein Zustand ist, den Spencer akzeptieren kann. Über mein Leiden sprechen wir dagegen nicht. Da Spencers Arbeit mit Geisteskrankheiten zu tun hat, können wir uns nicht eingestehen, dass ich mit den Menschen, die in der Nervenanstalt in Waterbury eingesperrt sind, irgendetwas gemein haben könnte.
Jemandem wie Spencer kann ich nicht erklären, wie es ist, wenn man in einen Spiegel blickt und das Gesicht darin nicht wiedererkennt. Dass ich an manchen Tagen alle Kraft zusammennehmen muss, um eine Maske aufzusetzen und durch mein Leben zu spazieren, als wäre ich eine andere. Ich habe schon neben ihm gesessen und mir die Fingernägel in die Handflächen gebohrt. Denn wenn ich blute, muss ich real sein.
Nachdem ich so viele Jahre übergangen worden bin, fällt es mir leicht zu glauben, dass die Welt ohne mich besser dran wäre. Spencer sagt, das liegt an meinem Zustand, an chemischen Stoffen in meinem Körper, die verrückt spielen, aber ich weiß es besser. Ich habe nie in diese Stadt gepasst, diese Ehe, diese Haut. Ich bin das Kind, das beim Spielen immer nur geduldet wurde. Ich bin das junge Mädchen, das lachte, obwohl es den Scherz nicht verstanden hat. Ich bin der Teil von dir, den du verleugnest, aber ich bin nur das, immer.
Und doch. Das Baby in mir weiß von alledem nichts. Und wenn ich mir und gleichzeitig ihm das Leben nehme, dann werde ich zweimal jemanden getötet haben, den ich eigentlich hätte lieben müssen.
Diese Wahrheit nutzt Spencer aus. Er
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