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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Feldforscherin an der Erhebung mitgearbeitet hätte, wie Frances Conklin und Harriet Abbott. Wäre ich dann glücklicher geworden? Diese Frauen waren Teil der Bewegung, die Vermont in die Zukunft führen möchte. Sie bewirkten etwas.
    Spencer sagt, dass manche Frauen dafür geschaffen sind, die Welt zu verändern, während andere dazu da sind, sie zusammenzuhalten. Und dann gibt es noch uns Übrige, die einfach nicht auf der Welt sein wollen, weil wir wissen, dass wir einfach nicht dazugehören, sosehr wir uns auch bemühen.
    Mein Vater legt den Arm um meine Schultern. »Wie geht’s meinem Enkelsohn?«, fragt er, als wäre uns das Geschlecht des Babys bereits bekannt.
    »Stark wie ein Stier«, sagt Spencer. »Tritt Cissy den lieben langen Tag gegen den Bauch.«
    Alle strahlen. Keiner erwähnt meine Mutter, obwohl ihr Name unausgesprochen zwischen uns schwebt. War ich vor meiner Geburt auch so stark? War das das Problem?
    Schweiß rinnt mir am Körper herab. Meine Kopfhaut juckt unter dem Hut.
    »Was wollen wir uns ansehen?«, fragt Spencer. »Es gibt ein Baseballspiel und ein Motorbootrennen. Oder sollen wir zu den Dressurnummern?«
    Durch das Menschengedränge hindurch sehe ich einen Mann, der mich anstarrt. Er ist dunkelhäutig wie ein Indianer, und seine Augen sind tiefschwarz. Er lächelt nicht und tut auch nicht aus Höflichkeit so, als würde er mich nicht fixieren. Ich kann den Blick nicht von ihm losreißen, auch nicht, als Spencer mich am Arm berührt. Ich weiß nicht, was mich mehr fasziniert: das Gefühl, dass dieser Mann mir wehtun könnte oder dass er es nicht tut.
    »Cissy?«
    »Die Dressurnummern«, sage ich und hoffe, dass das die passende Antwort ist.
    Als ich mich erneut umwende, ist der Mann verschwunden.

    Freiheit und Einheit.
    Motto des Staates Vermont

    Wir sitzen auf der Tribüne und sehen uns Bertie Briggs’ tanzende Katzen an. Ich fächele mir mit dem Programmheft Kühlung zu und hebe mein Haar von meinem feuchten Rücken, um es unter den Hut zu stecken. Die Schweißflecken unter meinen Armen sind mir peinlich.
    Spencer sieht in seinem Sommeranzug so kühl und ruhig aus wie immer. Er und mein Vater beobachten ein paar Zigeuner, die ihre Waren feilbieten – Körbe und winzige Schühchen, Kräutertinkturen. Sie haben den Sommer über ihr Lager am Fluss und am See aufgeschlagen, und viele von ihnen verbringen den Winter in Kanada. Sie sind natürlich keine richtigen Roma, nur Indianer – aber man nennt sie Zigeuner, weil sie herumziehen, dunkelhäutig sind und in großen Familienverbänden leben. Viele von ihnen bevölkern regelmäßig die Gefängnisse und Behelfsunterkünfte.
    Das sind die Menschen, die Professor Perkins in seiner Erhebung untersucht hat – neben einem Clan, der in armseligen Hütten am Wasser lebte. Viele von ihnen waren geisteskrank. Der Unterschied zwischen diesen Familien und beispielsweise uns ist rein genetisch. Der von einem Herumtreiber gezeugte Sohn wird später selbst ein Herumtreiber. Eine leichtlebige Mutter vererbt diesen Zug an ihre Tochter.
    »In Brandon sind drei weitere Operationen durchgeführt worden«, sagt mein Vater. »Zwei davon im Gefängnis.«
    Spencer lächelt. »Wunderbar.«
    »Genau das hatten wir uns erhofft. Ich könnte mir vorstellen, dass alle Patienten sich dazu bereiterklären, wenn ihnen klar wird, dass sie nach einem kleinen Eingriff so leben können, wie es ihnen beliebt.«
    Eine von Bertie Briggs’ getigerten Katzen balanciert über ein Drahtseil. Ihre Pfoten zittern, zumindest glaube ich, dass sie zittern, denn ich kann nicht mehr richtig sehen. Ich blicke in meinen Schoß, atme tief, versuche, nicht ohnmächtig zu werden.
    Die magere Hand, die vom Tribünenrand auf mich zuschnellt, ist entweder schmutzig oder einfach nur dunkel. Sie legt mir einen zerknitterten Zettel mit einem Mond und Sternen darauf auf den Schoß. MME. SOLIAT LIEST IHNEN KOSTENLOS AUS DER HAND. Als ich aufblicke, ist der kleine Junge schon wieder in der Menge verschwunden.
    »Ich gehe rasch zur Toilette«, sage ich und stehe auf.
    »Ich komme mit«, erklärt Spencer.
    »Ich bin durchaus in der Lage, allein zu gehen.« Schließlich lässt er mich gehen, aber erst nachdem er mir die Tribünentreppe hinuntergeholfen und die richtige Richtung gezeigt hat.
    Als ich sicher bin, dass er nicht mehr hinter mir hersieht, gehe ich in die entgegengesetzte Richtung. Verstohlen hole ich eine Zigarette aus meiner Handtasche – Spencer meint, Frauen sollten nicht rauchen –

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