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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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schließe die Augen. Er hat mich gewählt, weil ich Harry Beaumonts Tochter bin, nicht, weil ich ich bin.
    »Wie bin ich hergekommen?«, frage ich.
    »Du bist ohnmächtig geworden.«
    »Die Hitze …«
    »Ruh dich aus, Cissy.«
    Ich möchte laut schreien, dass es mir gut geht, auch wenn es nicht stimmt. Als Kind bin ich manchmal auf das Dach des Hauses geklettert, hab die Arme ausgebreitet und aus Leibeskräften gebrüllt, bis ganz Comtosook mich hörte. Nicht, weil ich irgendetwas Wichtiges zu verkünden hatte, sondern weil mein Vater immer wollte, dass ich leise bin.
    Dieser Charakterzug ist wie ein schwarzer Wirbel in meinem Blut. Manchmal frage ich mich, ob ich ihn von meiner Mutter geerbt habe. »Ich lasse Ruby bei dir«, Spencer küsst mich auf den Kopf. »Bald geht’s dir wieder gut.«
    Unser Hausmädchen ist vierzehn, fast alt genug, um meine Freundin zu sein, und doch trennen uns Welten. Nicht bloß, weil sie Frankokanadierin ist, nein, ich fühle mich viel älter als sie. Wenn sie sich unbeobachtet fühlt, tanzt Ruby nach dem Wäscheaufhängen zwischen den weißen Bettlaken an der Leine. Ich dagegen vergesse niemals, dass mich jemand sehen könnte.
    Sie kommt mit einem braunen Paket herein. »Miz Pike«, sagt sie, »schauen Sie, das ist heute mit der Post gekommen.«
    Sie stellt das Paket neben mir ab, wobei sie vergeblich versucht, den Verband an meinem Handgelenk zu übersehen. Ruby weiß natürlich, was passiert ist. Sie hat eine Schüssel mit warmem Wasser für Spencer gehalten, während er mich verarztete. Sie gehört mit zum Komplott des Schweigens.
    Ruby löst die Kordel und öffnet das Paket. Es enthält ein Paar Halbstiefel, genau wie die, die Spencer mir vorhin ausgezogen hat. Die neuen sind eine Nummer größer, weil mir alle Schuhe im Verlauf der Schwangerschaft zu eng geworden sind. Ich spähe über den Bettrand auf Rubys Schuhe. »Du hast doch Größe siebenunddreißig, nicht?«
    »Ja, Ma’am.«
    »Dann nimm doch meine alten. Ich glaube nicht, dass meine Füße wieder kleiner werden.« Ruby hebt die Schuhe auf, als wären sie eine Kostbarkeit. »Meine Schwester hat mir immer die Sachen gegeben, aus denen sie rausgewachsen war.«
    »Du hast eine Schwester?« Wie kann ich seit einem Jahr mit diesem Mädchen unter einem Dach wohnen und das nicht wissen?
    »Nicht mehr. Diphtherie.« Ruby breitet den restlichen Inhalt des Kartons auf dem Bett aus: winzig kleine Pullover und Socken und Hemdchen in allen Farben. Dann hält sie eine Babymütze mit Spitzenbesatz zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. »Haben Sie schon mal so was Feines gesehen?«
    Ruby freut sich mehr auf das Baby als ich. Ich freu mich zwar, dass es bald auf die Welt kommt – aber niemand scheint zu begreifen, dass ich die Geburt nicht überleben werde. Ich hab einiges von Spencer gelernt; ich weiß, dass der Defekt in meinem Keimplasma ist. Wenn es mir nicht gelingt, mich vorher umzubringen, dann ist der Tag, an dem das Baby zur Welt kommt, der Tag, an dem ich sterben werde.
    Spencer hat mir einige gynäkologische Tests gezeigt, um mich vom Gegenteil zu überzeugen. Er ist mit mir zu den besten Ärzten gegangen. Ich nicke, ich lächle, manchmal höre ich sogar zu. Währenddessen plane ich meinen Selbstmord. Doch dann spüre ich, wie die kleinen Füße des Babys meinen Rippenbogen streifen, als wüsste der Kleine instinktiv, wo mein Herz zu finden ist, und ich begreife, dass ich verloren bin.
    »Aber nicht doch, Miz Pike«, sagt Ruby, und ich merke erst jetzt, dass ich weine. »Soll ich den Professor holen?«
    »Nein.« Ich wische mir mit dem Betttuch über die Augen. »Nein, alles in Ordnung. Ich bin bloß müde.«
    Letzte Nacht dachte ich, wenn ich tief genug schneiden würde, könnte ich vielleicht den Ort finden, an dem es die ganze Zeit schmerzt. Als Spencer mir den Verband anlegte, sagte er, ich müsste an mein Baby denken. Ich habe immerhin noch zwei Monate bis zur Geburt. Er versteht nicht, dass ich sehr wohl an meinen Sohn gedacht habe. Ich wollte ihm die Last ersparen, die ich mein ganzes Leben mit mir herumtrage: das Wissen, dass er der Grund für meinen Tod war.
    Ich weiß, dass ich nicht logisch handle, dass auch mein Baby in Gefahr ist, wenn ich mir Schaden zufüge. Aber wenn ich allein mit der Dunkelheit und der Nacht und einer Messerklinge bin, zählt die Vernunft nicht mehr. Ich habe oft versucht, es Spencer zu erklären. »Aber ich liebe dich doch«, sagt er, als wäre das schon genug, um mich hier zu

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