Zeit der Gespenster
halten.
»Weißt du, wie das ist, durch ein Zimmer voller Menschen zu gehen und dich so einsam zu fühlen, dass du kaum noch den nächsten Schritt tun kannst?«
»Miz Pike«, flüstert Ruby statt einer Antwort.
»Vielleicht könnten wir so tun, als wären wir Schwestern.«
Ruby, eine Dienstbotin, und ich, die Gattin eines der angesehensten Bürger von Burlington. »Vielleicht«, antworte ich.
Spencers Hauptseminar findet in einem kleinen Raum statt, der nach Leinsamenöl und Philosophie riecht. Spencer steht vorne in Hemdsärmeln. Auf einer Leinwand hinter ihm sind Lichtbilder von Schädeln zu sehen. »Man beachte den Unterschied zwischen dem dolichozephalen und dem brachyzephalen negroiden Schädel«, sagt Spencer. »Der prognathische Kiefer, die abgeflachte Nase, die Nähe zum Affen … all das sind Anzeichen für eine minderwertige Daseinsform.«
Eine Hand schnellt hoch. »Wie primitiv sind sie?«, fragt ein Student.
»Rudimentär«, erläutert Spencer. »Wie Kinder. Sie erfreuen sich an leuchtenden Farben wie Kinder. Sie sind fähig, einfache Freundschaften zu schließen, wie Kinder.« Er wirft einen Blick auf die Wanduhr, und als seine Augen dann über mich hinweggleiten, leuchten sie kurz auf. »In der kommenden Woche beschäftigen wir uns mit der Einteilung der Menschheit in fünf klar unterscheidbare Rassen«, kündigt er noch an, dann sammeln die Studenten ihre Bücher ein und gehen. Lächelnd kommt Spencer auf mich zu. »Was verschafft mir die Ehre?«
»Es ist Mittwoch«, rufe ich ihm in Erinnerung. »Mittwochs essen wir doch immer zusammen zu Mittag.« Wie zum Beweis hole ich den Korb mit unserem Lunch hinter meinem Rücken hervor.
Ein kleines V bildet sich auf Spencers Stirn. »Ach, Cissy, so ein Pech, Harry Perkins hat mich für heute Nachmittag zu einer Unterredung gebeten. Ich habe gar keine Zeit.«
»Ist nicht schlimm«, sage ich.
»Brav.«
»Spencer?«, rufe ich ihm nach. »Soll ich warten?« Aber er hört mich nicht oder will mich nicht hören. Mit einem Seufzer stelle ich den Picknickkorb ab.
»Mrs. Pike?«
Ertappt fahre ich herum und sehe Abigail Alcott. Sie ist Ende zwanzig und Sozialarbeiterin beim Wohlfahrtsamt. Sie trägt einen modischen marineblauen Rock und eine plissierte weiße Bluse. In letzter Zeit hat sie sich öfter mit Spencer getroffen, um mit ihm die Unterlagen von der Erhebung durchzugehen, die sie bei ihrer Arbeit verwendet. Sie soll abschätzen, welche von den minderwertigen Familien noch zu bessern sind und welche von dem neuen Sterilisationsgesetz profitieren werden.
»Hallo, Abigail«, sage ich, so selbstsicher ich kann, denn sie ist älter als ich und hat eine richtige Ausbildung, nicht bloß zwei Jahre in einem Mädchenpensionat.
»Ist der Professor da?« Sie blickt auf ihre Armbanduhr. »Wir wollten heute Nachmittag zusammen nach Waterbury fahren.«
Ich bin also nicht die Einzige, die Spencer versetzt. Ich würde gern wissen, was sie in der Nervenanstalt machen wollen. Bei diesem Thema haben sie mich nie ernst genommen – ich verstehe längst nicht so viel von Eugenik wie mein Vater oder mein Mann.
Die süße Welle der Auflehnung erfasst mich.
»Hat er Sie denn nicht über sein Treffen mit Professor Perkins informiert?« So weit ist es noch keine Lüge. »Spencer wollte Ihnen eine Nachricht schicken … aber er hat ja immer so viel zu tun … Jedenfalls soll ich an seiner Stelle mit Ihnen nach Waterbury fahren.«
Abigail starrt mich an, aber sie ist zu höflich, um zu sagen, was sie denkt: Dass ich keine ausgebildete Sozialarbeiterin bin, dass ich noch lange keine Eugenikexpertin bin, bloß weil mein Vater und mein Mann es sind. Ihre Augen wandern zu meinem schwangeren Bauch. »Spencer ist ganz sicher, dass kein Risiko besteht«, füge ich hinzu.
Das ist entscheidend. Abigail würde sich lieber den rechten Arm abhacken, als Spencers Urteilsvermögen infrage zu stellen. Sie sieht mich prüfend an, nickt schließlich. »Also dann«, sagt sie, »fahren wir.«
Vermont braucht eine systematische psychiatrische Erhebung, die jeden vorkommenden psychischen Defekt innerhalb unserer Grenzen erfasst, sowie Einrichtungen, die sämtliche abhängigen und kriminellen Individuen einer gründlichen psychiatrischen Untersuchung unterziehen.
Kinderhilfswerk, Vermont: Zweiter Jahresbericht, 1921
Die Nervenheilanstalt in Waterbury wurde 1890 erbaut. Dr. Stanley, der Leiter, war einmal bei uns zum Dinner, nachdem er sich 1927 für das Sterilisationsgesetz
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