Zeit der Gespenster
eingesetzt hatte, das dann doch nicht verabschiedet wurde. Ich war damals dreizehn, und ich erinnere mich noch an den Schweißrand an seinem Kragen, daran, dass er keinen Rosenkohl mochte und dass er mir zu nahe kam, während er Konversation betrieb.
»Man sollte meinen, dass die meisten Patienten in Waterbury an Chorea Huntington leiden, da es eine vererbbare Nervenkrankheit ist«, sagt Abigail, als wir den Weg vom Parkplatz hinaufgehen. Jetzt, da sie sich in den Kopf gesetzt hat, mir alles beizubringen, was ich bislang verpasst habe, ist sie gesprächig, fast freundlich. »Aber wie sich herausgestellt hat, sind hier auch jede Menge Zigeuner.«
Wir haben die Tür zum Gebäude A erreicht, die neue Station, auf der viele Patientinnen untergebracht sind. Abigail blickt mich mit leuchtenden Augen an. »Wie ist das, neben einem Mann aufzuwachen, der so ein … Visionär ist?«, fragt sie, und dann wird ihr Gesicht so rot wie die Backsteine des Gebäudes.
Plötzlich öffnet sich die Tür der Anstalt, und wir werden hineingesogen, denn die Hölle ist ein Vakuum. Pflegeschwestern mit weißen Hauben bewegen sich lautlos in den Gängen. Eine Patientin steht am Empfangsschalter und schluchzt haltlos. Eine andere läuft mit nassem Haar nackt über den Flur. Ein Mädchen, kaum älter als Ruby, sitzt auf einer Bank. Sie trägt eine Jacke, mit der ihre Arme an die Holzlatten hinter ihr gefesselt sind. Unter der Bank ist eine Lache.
»Miss Alcott!« Dr. Stanley kommt in einem blütenweißen Kittel auf uns zu.
»Cissy? Cissy! Sie sind ja richtig erwachsen geworden.« Er registriert meinen gewölbten Leib. »Und rundlicher, wie ich sehe. Offenbar darf ich Ihnen gratulieren.«
»Danke.«
»Mrs. Pike vertritt heute den Professor«, erklärt Abigail.
Dr. Stanley verbirgt seine Überraschung gut. »Ausgezeichnet. Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Er geht den Flur hinunter. Ich kann mich jedoch nicht von dem leeren Blick des Mädchens auf der Bank losreißen.
»Mrs. Pike!«, ruft Abigail eindringlich, und ich zwinge mich hinterherzugehen.
Dr. Stanley, der eine Gelegenheit sieht, Spencer mit meiner Hilfe zu beeindrucken, macht einen ausführlichen Rundgang mit uns. An manchen Stellen drängen sich so viele Insassen auf den Fluren, dass wir im Gänsemarsch gehen müssen. »Unser Antrag auf einen Erweiterungsbau ist endlich bewilligt worden. Sie sehen ja, wir platzen aus allen Nähten.«
»Wie viele Patienten haben Sie?«, fragt Abigail.
»Neunhundertsiebenundneunzig«, sagt Stanley.
Der Doktor deutet auf eine offene Tür, die in einen großen sonnigen Raum führt, in dem es von Patienten wimmelt. »Ich halte viel von handwerklicher Arbeit. Müßiggang ist aller Laster Anfang.« Frauen sitzen an Tischen und flechten Körbe oder setzen Wäscheklammern zusammen. Sie blicken zu mir hoch und sehen eine reiche Lady in modischer Umstandskleidung. Sie merken nicht, dass ich eine von ihnen bin.
»Wir verkaufen die Erzeugnisse«, sagt Stanley stolz. »Der Erlös wird für die Freizeitgestaltung der Patienten verwendet.«
Dr. Stanley führt uns weiter den Gang hinunter bis zu einer geschlossenen Tür. »Leider sind nicht alle unsere Patienten kooperativ«, sagt Dr. Stanley. Er sieht mich an. »Ich weiß nicht, ob eine Frau in Ihrem Zustand sich das wirklich …«
»Mir geht es gut.« Zum Beweis öffne ich selbst die Tür.
Und bereue es sofort.
Zwei kräftige Männer stehen rechts und links von einer Wanne voll Wasser und haben die Hände auf die Schultern einer nackten Frau gelegt. Bevor sie untertaucht, sehe ich noch, dass ihre Lippen blau und ihre Brüste eingefallen sind. Über ihrem Kopf strömt Wasser aus einem Kran. Daneben liegt eine andere Frau mit dem Gesicht nach unten auf einem Tisch. Ein Laken bedeckt ihren Oberkörper. Eine Krankenschwester pumpt durch einen Schlauch Wasser in den After der Patientin. »Hydrotherapie und Darmspülung wirken bei aufsässigen Patientinnen Wunder«, sagt Stanley. »Aber ich möchte Ihnen heute etwas anderes zeigen. Meine Damen, ich bin stolz, Ihnen die erste Patientin präsentieren zu können, die in unserer Anstalt freiwillig eine Sterilisation hat vornehmen lassen. Sie ist gleich hier.« Er führt uns in den hinteren Bereich des Raumes. »Die Salpingektomie wurde durchgeführt, als sie wegen einer Magen-Darm-Erkrankung auf die Krankenstation kam. Sie stammt aus einer der ersten zehn Familien, die in der Erhebung untersucht wurden, einer Familie, in der es seit Generationen
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