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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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kennenzulernen. Das hier ist Mrs. Pike.«
    Jeannes Augen wandern nicht höher als bis zu meinem Bauch. »Ihr erstes?«
    »Ja.«
    »Ich habe auch ein Kind«, sagt Jeanne mit Inbrunst. »Einen Jungen.«
    »Ja«, antwortet Abigail. »Ihre Tante Louise hat mir viel von Norman erzählt.«
    »Oho«, entgegnet Jeanne und wackelt mit dem Kopf. »Er war ihr Liebling. Sie hat ihn immer mitgenommen, wenn sie im Wald Pflanzen sammeln gegangen ist – Wacholder und Schwarzkiefer und Blutwurz.« Über Abigails Schulter hinweg sehe ich, was sie notiert. Bubikopf – Rock mit Sicherheitsnadeln befestigt. Strümpfe bis unter Knie gerollt. Wirkt bekümmert.
    »Jeannes Sohn ist in der Schule für Geistesschwache in Brandon«, erklärt Abigail mir. »Man sagt mir, Sie haben einen Brief von ihm bekommen, Jeanne.«
    Das zumindest scheint sie aufzumuntern. Als sie aufspringt, um ihn zu holen, beugt Abigail sich zu mir. »Der Staat hat ihr den Jungen weggenommen. Als die Sozialarbeiter kamen, hockte er hier und aß rohes Fleisch. Rohes Fleisch!«
    Einen Moment später ist Jeanne wieder da und hält stolz den Brief hoch. »Wie alt ist Norman jetzt?«, erkundigt sich Abigail.
    »Im Oktober wird er zehn.«
    »Lesen Sie mir vor, was er geschrieben hat?«
    Jeanne zaudert, aber nur kurz. Stockend arbeitet sie sich durch die unleserliche Schrift des Jungen, berichtigt sich ständig. Große Schwierigkeiten mit Lesen und Schreiben , notiert Abigail. Mutter und Sohn . Zu Jeanne sagt sie: »Das klingt ja nach einem gelehrigen Schüler!«
    Jeannes Augen werden weicher, weil sie meint, in Abigail eine Freundin gefunden zu haben. »Missus Alcott, Sie arbeiten doch für die Behörden … können Sie da nicht mal fragen, wann Norman wieder nach Hause darf?«
    »Ich darf mich entschuldigen«, sage ich. »Ich möchte etwas an die frische Luft.«
    Draußen fällt mir ein Mann auf, der mit dem Rücken zu mir am Seeufer steht und angelt. Rhythmisch und anmutig wirft er die Leine aus und holt sie wieder ein, als vollführe er einen kunstvollen Tanz. Er trägt eine Hose mit Hosenträgern, und sein schwarzes Haar fällt ihm weit über den Rücken.
    Zeigen Sie Interesse an dem, was sie tun , das war Abigails erste Faustregel. »Hallo.« Ich gehe nahe ans Wasser heran, doch er wendet sich mir noch immer nicht zu. »Ich sehe, Sie angeln.«
    Toll, Lia , denke ich.
    Er dreht sich um und löst einen gut dreißig Zentimeter langen Fisch vom Haken. Ich erkenne, dass es der Mann ist, der mich am Unabhängigkeitstag beobachtet hat. Seine Augen weiten sich und gleiten über mein Gesicht, als hätte er noch nie jemanden wie mich gesehen. Hat er vielleicht auch nicht.
    »Hallo«, sage ich erneut, fest entschlossen, möglichst freundlich zu sein. »Ich bin Cissy Pike.« Ich strecke meine Hand aus.
    Er starrt sie lange an. Dann packt er sie unversehens. » N’wibgwigid Môlsem «, murmelt er und übersetzt dann: »Ich heiße Gray Wolf.«
    »Sie sprechen unsere Sprache!«
    »Besser als Sie Alnôbak «, entgegnet er.
    Er hat meine Hand nicht losgelassen. Sachte ziehe ich sie weg, räuspere mich und erkundige mich höflich: »Wohnen Sie hier?«
    »Ich wohne überall.«
    »Sie haben doch bestimmt ein Haus?«
    »Ich habe ein Zelt.« Er fesselt meinen Blick, genau wie in dem Spiegelkabinett. »Ich brauche nicht viel.«
    »Ich habe Sie gesehen«, höre ich mich plötzlich sagen. »Am vierten Juli. Sie sind mir gefolgt.«
    »Und heute folgen Sie mir?«, fragt er.
    »Oh, nein. Ich wusste nicht mal, dass Sie hier … nein, ich begleite Abigail Alcott.«
    Seine Miene verfinstert sich. Er dreht mir den Rücken zu und fängt an, sein Angelzeug einzupacken. »Dann sind Sie gekommen, um noch mehr von unseren Jungs in die Besserungsanstalt zu bringen? Oder um uns zu erklären, dass wir in der Hölle landen werden, weil wir in einer anderen Kirche beten?«
    Ich bin sprachlos. »Sie kennen mich doch gar nicht.«
    Ein Schatten huscht über sein Gesicht. »Sie haben recht«, gesteht er. »Ich kenne Sie nicht.«
    »Vielleicht bin ich nicht wie Abigail.«
    Wir stehen dicht voreinander. »Und vielleicht bin ich nicht irgendein Zigeuner«, erwidert er.
    Worte haben eine Wand zwischen uns errichtet, und ich will sie wieder entfernen, Stein für Stein. Also zeige ich aufs Wasser. »Wie nennen Sie das?«
    »Einen See.«
    »Nein, ich meine, wie nennen Sie das?«
    Er mustert mich aufmerksam. » Pitawbagw .«
    » Pitawbagw .« Ich zeige auf die Sonne. »Und das?«
    » Kisos .« Ich bücke mich und hebe

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