Zeit der Gespenster
Fälle von Depressionen und destruktiven Verhaltensauffälligkeiten gibt. Dr. Kastler und ich haben die beiden erforderlichen Unterschriften geleistet.«
Wir bleiben vor einem Tisch stehen, neben dem ein Assistent sitzt, der einen genauso weißen Kittel trägt wie Dr. Stanley. Auf dem Tisch liegt eine zitternde Frau. »Ihr Zustand ist gut«, sagt der Psychiater begeistert. »Die ganze Aufregung …«, er winkt ab, »hat nichts mit dem Eingriff zu tun.« Der Assistent wickelt kalte, nasse Tücher um die Patientin, während sie mit den Zähnen klappert. »Feuchte Umschläge sind bei schwierigen Fällen oft ausgesprochen wirkungsvoll«, sagt Dr. Stanley.
»Was hat sie getan?«, höre ich mich fragen.
»Versuchter Selbstmord. Zum dritten Mal.«
Jetzt erst fallen mir ihre Hände auf, die verbundenen Gelenke. Nur durch die Gnade Gottes bin ich verschont. Wenn mein Vater nicht Harry Beaumont wäre, wenn mein Ehemann nicht Pike wäre, läge ich dann jetzt dort auf dem Tisch?
»Ich … entschuldigen Sie …« Ich drehe mich von Dr. Stanley weg, gehe durch den Raum und hinaus auf den Gang. Ich haste an dem überfüllten Aufenthaltsraum vorbei, an dem Mädchen, das an die Bank gefesselt ist. Als ich um eine Ecke stürme, pralle ich gegen eine Patientin. Sie ist groß und dunkel, hat das Haar zu fettigen Zöpfen geflochten. Ihre Arme sind von der Schulter bis zum Handgelenk zerkratzt. »Dir nehmen Sie auch noch dein Baby weg«, sagt sie.
Ich lege schützend die Arme vor den Bauch. Als sie die Hand hebt und mich berühren will, wende ich mich um und fliehe ins Freie. Ich hole tief Luft und setze mich auf die Steinstufen. Nach wenigen Augenblicken ziehe ich den Ärmel meiner Bluse hoch und löse den Verband. Der Schnitt sieht aus wie ein halb geöffneter Mund in der Haut.
So findet Abigail mich, als sie fünfzehn Minuten später herauskommt. Ich kann ihr nicht in die Augen sehen, weil ich mich schäme. Sie setzt sich neben mich. Ich sehe, dass sie die Wunde registriert, aber sie sagt nichts dazu. »Als ich das erste Mal hier war«, gesteht Abigail, »bin ich zurück ins Büro gefahren, habe meine Kündigung geschrieben und meinem Chef gesagt, dass ich nicht robust genug bin, um als Sozialarbeiterin zu arbeiten. Wissen Sie, was er mir gesagt hat? Genau deshalb müssen Sie es machen. Damit es eines Tages immer weniger Menschen gibt, die leiden müssen.«
Wenn man es so betrachtet, ergibt es sogar Sinn. Man muss heute tun, was man kann, um die Welt von morgen zu ändern. Und ich frage mich, ob jemand die Patientin gefragt hat, warum sie nicht mehr leben wollte, ob es irgendetwas damit zu tun hat, dass sie keine Babys mehr bekommen kann.
»Sie haben nicht aufgegeben«, sage ich.
Abigail schüttelt den Kopf. »Und Sie werden auch nicht aufgeben«, sagt sie nicht unfreundlich, als sie mir den Ärmel herunterzieht. »Morgen früh, acht Uhr. Kommen Sie in mein Büro an der Church Street.«
Frage:
Warum Sterilisation?
Antwort:
Um die Rasse von denjenigen zu reinigen, bei denen die Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie die dysgenischen Neigungen weitergeben werden, unter denen sie selbst leiden. Um die Notwendigkeit aller möglichen Wohlfahrtsmaßnahmen zu verringern. Um Steuern zu senken. Um Leid und Elend zu mildern. Um das zu tun, was die Natur unter natürlichen Bedingungen auch tun würde, aber humaner. Sterilisation ist keine Strafmaßnahme. Sie hat lediglich eine Schutzfunktion.
American Eugenics Society,
Ein eugenischer Katechismus, 1926
Als ich nach Hause fahre, steht die Sonne schon tief am Horizont. Ich freue mich jetzt schon so sehr auf morgen.
Ich parke den Wagen und steige die Verandastufen empor. Kurz vor der Tür stoße ich mit dem Fuß gegen etwas Kleines, Leichtes. Ich blicke nach unten und sehe ein winziges Körbchen, nicht größer als meine Faust, ein richtiges kleines Kunstwerk.
Ich schiebe es in die Tasche meines Kleides und gehe ins Haus. »Cissy?« Spencers Stimme zieht mich an wie ein Magnet. Er steht in der offenen Tür seines Arbeitszimmers, seinen abendlichen Scotch in der Hand. »Da komme ich von der Universität nach Hause geeilt, um meine hübsche Frau um Verzeihung zu bitten, weil ich sie mittags versetzt habe, und sie hat mich schon verlassen.«
»Nur vorübergehend«, sage ich und küsse ihn auf die Wange.
»Und was hat dich in eine so gute Stimmung versetzt?«
Ich sehe Ruby, die reglos im Hintergrund steht. »Die Kinderhilfe«, lüge ich. »Wir hatten ein Treffen.«
Rubys Augen
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