Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Frau ihn auf.
Reacher ging in die gegenüberliegende Ecke und setzte sich auf den Boden, klemmte sich zwischen die rechtwinklig
zusammenlaufenden Bimssteinwände. Sie waren kalt, und die Farbe war glitschig. Er verschränkte die Arme, streckte die Beine aus und schlug die Füße übereinander. Lehnte den Kopf an die Wand, so dass er die Leute, die an der Tür standen, genau im Blick hatte. Sie zogen sich auf den Korridor zurück und schlossen die Tür. Kein Klicken, kein einschnappender Riegel, aber das war auch nicht nötig, weil sie auf der Innenseite keinen Griff hatte.
Er spürte nur das leichte Schwingen des Bodens, als sich ihre Schritte entfernten. Danach war alles still, bis auf das leise Säuseln der Lüftung über seinem Kopf. Etwa fünf Minuten lang saß er so da, dann hörte er wieder Schritte draußen auf dem Korridor. Die Tür ging auf, jemand schaute herein und starrte ihn an. Ein Mann, etwas älter, das Gesicht rot und aufgedunsen vor Erschöpfung oder zu hohem Blutdruck, der ihn unverhohlen feindselig musterte, als wollte er sagen: Du bist also der Typ, was? Er starrte ihn drei, vier Sekunden lang an, zog sich dann zurück und knallte die Tür zu, worauf wieder Stille einkehrte.
Fünf Minuten später noch mal das Gleiche. Schritte auf dem Korridor, jemand schaute zur Tür rein, starrte ihn ebenso offen und unverhohlen an. Du bist also derjenige . Diesmal war es ein jüngeres Gesicht. Hager und dunkel. Darunter ein Hemd samt Krawatte. Kein Jackett. Reacher starrte drei, vier Sekunden lang zurück. Dann verschwand das Gesicht wieder, und die Tür wurde zugeknallt.
Diesmal wurde er länger allein gelassen, gut und gern zwanzig Minuten. Dann kam der dritte Neugierige. Schritte auf dem Flur, ein Rütteln am Türgriff, die Tür ging auf, das übliche Anglotzen. Das ist der Typ, was? Diesmal war es wieder ein älterer Mann, etwa Mitte fünfzig, graue Haare, energisches Gesicht. Er trug eine dicke Brille und musterte ihn mit gelassenem Blick. Ernst und nachdenklich. Er wirkte wie jemand, der eine gewisse Verantwortung trug. Eine Art FBI-Chef vielleicht. Reacher schaute ihn nur müde
an. Keiner sagte ein Wort. Niemand gab einen Ton von sich. Der Typ starrte ihn nur eine Zeit lang an, zog sich dann wieder zurück und schloss die Tür.
Irgendwas ging da draußen vor sich. Reacher wurde gut eine Stunde allein gelassen. Er machte es sich am Boden bequem und wartete. Dann hatte die Warterei ein Ende. Eine ganze Horde Menschen rottete sich draußen auf dem Korridor zusammen, laut wie eine aufgescheuchte Rinderherde. Reacher spürte ihre Schritte. Dann wurde die Tür geöffnet, und der grauhaarige Typ trat in den Raum. Er blieb unmittelbar hinter der Schwelle stehen und beugte sich vor.
»Wird Zeit, dass wir miteinander reden«, sagte er.
Die beiden Nachwuchsagenten bauten sich hinter ihm auf, als wollten sie ihm Geleitschutz geben. Reacher wartete einen Moment, rappelte sich dann auf und trat aus seiner Ecke.
»Ich möchte einen Anruf machen«, sagte er.
Der Grauhaarige schüttelte den Kopf.
»Anrufen können Sie später«, sagte er. »Erst reden wir miteinander, okay.«
Reacher zuckte die Achseln. Selbstverständlich wurden ihm hier Grundrechte verwehrt, aber der Haken dabei war, dass man so was erst mal beweisen musste, einen Zeugen dafür brauchte. Jemanden, der es mitbekommen hatte. Und die zwei jungen Agenten bekamen garantiert nichts davon mit. Die sahen so aus, als würden sie hinterher Stein und Bein schwören, dass Moses höchstpersönlich vom Berg herabgestiegen wäre und ihm sämtliche Gesetzestafeln einschließlich der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika vorgelesen hätte.
»Dann wollen wir mal«, sagte der Grauhaarige.
Reacher wurde auf den grauen Korridor hinausgeführt, wo sich ein ganzer Haufen Menschen tummelte. Die Frau war da, dazu der Rotblonde mit dem Schnurrbart, der ältere Typ, der zu hohen Blutdruck hatte, und der Jüngling
mit dem hageren Gesicht, der in Hemdsärmeln herumlief. Sie waren aufgekratzt. Hochgradig erregt, standen unter Strom, auch zu so später Stunde noch. Waren wie berauscht von der Aussicht auf einen Erfolg. Reacher kannte das Gefühl. Er hatte es mehr als einmal erlebt, öfter als er sich erinnern konnte.
Aber sie waren untereinander uneins. Es gab eindeutig zwei Teams, zwischen denen eine gewisse Spannung herrschte. Als sie den Gang entlangliefen, wurde das offenkundig. Die Frau hielt sich dicht an seiner linken Schulter, und der Rotblonde und
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