Zeit des Mondes
bald wieder bei mir sei oder so, dass alles gut werde, dass Mama mich grüßen lasse. Ich legte den Hörer auf.
„Sie operieren sie am Herzen“, flüsterte ich.
36
Ich ging mit Mina in den Vorgarten hinaus. Wir saßen auf der vorderen Mauer und warteten darauf, dass Papas Auto in die Straße einbog. Die Tür hinter uns war offen und ein Lichtkeil fiel ins Dunkel. Säusel kam, schlich durch das Dunkel an der Mauer. Er setzte sich unter uns hin und schmiegte sich an unsere Füße.
„Was bedeutet das?“, sagte ich, „wenn Skellig Tiere isst und wie die Käuze Gewölle herauswürgt?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Wir können es nicht wissen“, sagte sie.
„Was ist er?“, sagte ich.
„Wir können es nicht wissen. Manchmal müssen wir einfach akzeptieren, dass es etwas gibt, was wir nicht wissen können. Warum ist deine Schwester krank? Warum ist mein Vater gestorben?“
Sie hielt meine Hand.
„Manchmal denken wir, wir sollten fähig sein, alles zu wissen. Können wir aber nicht. Wir müssen uns erlauben, das zu sehen, was zu sehen ist, und wir müssen uns Vorstellungen machen.“
Wir sprachen über die Jungen im Nest über uns. Wir versuchten zusammen, ihr Atmen zu hören. Wir überlegten, was Amselbabys träumen.
„Manchmal werden sie sehr ängstlich sein“, sagte Mina. „Sie werden von Katzen träumen, die zu ihnen hinaufklettern. Sie werden von gefährlichen Krähen mit hässlichen Schnäbeln träumen. Sie werden von bösen Kindern träumen, die das Nest ausrauben. Sie werden vom Tod um sie herum träumen. Aber sie werden auch schöne Träume haben. Träume vom Leben. Sie werden davon träumen, wie ihre Eltern fliegen zu können. Sie werden davon träumen, eines Tages ihren eigenen Baum zu finden, ihr eigenes Nest zu bauen, ihre eigenen Jungen zu haben.“
Ich hielt die Hand an mein Herz.
Was würde ich spüren, wenn sie die zarte Brust meiner Schwester öffneten, wenn sie in ihr winziges Herz schnitten?
Mina hatte kalte, trockene, kleine Hände. Ich spürte den schwachen Puls in ihnen. Ich spürte meine eigene Hand zittern, ganz schnell, ganz sanft.
„Wir sind wie Jungvögel“, sagte sie. „Die halbe Zeit glücklich, die halbe Zeit zu Tode erschrocken.“
Ich schloss die Augen und versuchte zu entdecken, wo sich die glückliche Hälfte versteckt hatte. Ich spürte, wie mir Tränen aus den geschlossenen Augen rannen. Ich spürte wie Säusels Krallen an meinen Jeans zerrten. Ich wollte wie Skellig ganz allein in einem Dachgeschoss sein, nur mit den Käuzen und dem Mondlicht und nur meinen Gefühlen folgend.
„Du bist so tapfer“, sagte Mina.
Und dann kam Papas Auto mit seinem kreischenden Motor und seinen gleißenden Lichtern, und die Angst wurde nur noch größer, immer größer und größer.
37
Eine endlose Nacht. Träumend und traumlos. Schlafend und schlaflos. In dem Zimmer nebenan schnarchte und schnaufte Papa. Kein Mond am Himmel. Weit und breit Dunkelheit. Die Uhr auf meinem Nachttisch ging sicher nicht richtig. Sie zeigte nur die vollen Stunden. Ein Uhr. Zwei Uhr. Drei Uhr. Die Minuten dazwischen nahmen kein Ende. Kein Kauzschrei, kein Ruf von Skellig oder Mina. Die Zeit war stehen geblieben, wie die ganze Welt stehen geblieben war. Dann musste ich doch noch richtig eingeschlafen sein und wachte bei Tagesanbruch auf mit brennenden Augen und verzagt.
Und dann stritten wir, Papa und ich, während wir angebrannten Toast kauten und lauwarmen Tee tranken.
„Nein!“, schrie ich. „Ich gehe nicht in die Schule! Warum sollte ich? Nicht heute!“
„Du tust, was man dir sagt, verdammt noch mal! Du tust, was für Mama und das Baby das Beste ist!“
„Du willst mich nur aus dem Weg haben, damit du nicht an mich denken musst und dich nicht um mich kümmern musst, und an nichts als an das verdammte Baby denken musst!“
„Sag nicht verdammt!“
„Es ist verdammt! Es ist verdammt, verdammt, verdammt! Und es ist nicht gerecht!“
Papa kickte gegen das Tischbein, und die Milchflasche auf dem Tisch kippte um und ein Marmeladenglas krachte zu Boden.
„Siehst du?“, rief er. „Siehst du, wie du mich aufregst?“
Er hob die Fäuste, als ob er etwas zerschmettern wollte: irgendetwas, den Tisch, mich.
„Geh in die verdammte Schule!“, rief er. „Geh mir verdammt noch mal aus den Augen!“
Dann streckte er den Arm nach mir aus und zog mich an sich.
„Ich liebe dich“, flüsterte er. „Ich liebe dich.“
Und wir weinten.
„Du könntest mitkommen“, sagte er.
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