Zeit des Mondes
„Aber du könntest nichts tun. Wir müssen bloß warten und beten und glauben, dass alles gut wird.“
Augenblicke später kam Mina und klopfte an die Tür. Sie hatte Säusel auf dem Arm.
„Du musst kommen und mir helfen“, sagte sie.
Papa nickte.
„Ich werde dich am Nachmittag abholen“, sagte er. „Nach der Operation. Geh mit Mina.“
Sie nahm mich mit in ihren Garten. Sie hielt Säusel fest. Die Amsel auf dem Dach stieß ihren Warnschrei aus.
„Böser Kerl“, sagte sie zu Säusel und ging zur offenen Haustür, warf ihn hinein und schlug die Haustür hinter ihm zu.
„Die Vogeljungen sind aus dem Nest“, sagte sie. „Sei ganz still und ruhig. Gib auf Katzen acht.“
Wir saßen auf der Vordertreppe und bewegten uns nicht.
„Unter der Hecke“, sagte sie. „Und unter dem Rosenbaum an der Mauer.“
Ich fragte mich, nach was ich ausschaute, aber dann sah ich den Ersten von ihnen, einen kleinen, braunen Ball aus Federn und mit weit aufgesperrtem Schnabel im Dunkel unter der Hecke.
„So fängt ihr Leben außerhalb des Nests an“, sagte sie. „Sie können nicht fliegen. Ihre Eltern müssen sie noch füttern. Aber sie sind fast ganz allein. Sie können nur hüpfen und sich im Dunkeln verstecken und auf ihr Fressen warten.“
Die Eltern kamen näher, die braune Mutter setzte sich auf den untersten Ast des Baums, der rabenschwarze Vater auf die Hecke. Aus den Schnäbeln hingen Würmer. Mit sanften Tönen riefen sie sich gegenseitig und mit leisem Klicken und Kehllauten die Küken.
„Der erste Tag außerhalb des Nests“, flüsterte Mina. „Ich glaube, Säusel hat mindestens schon eines von ihnen gefressen.“
Die Eltern warteten, nahmen sich vor uns in Acht, dann flogen sie in den Garten hinunter. Ein Vogeljunges hopste unter dem Rosenbusch hervor, ließ sich von seiner Mutter Würmer in den Schnabel stecken und hopste zurück. Der Vater fütterte das Junge unter der Hecke. Die Eltern flogen wieder weg.
„Sie machen das den ganzen Tag“, sagte Mina. „Nichts als Fliegen und Füttern bis zur Dämmerung. Und dasselbe morgen und übermorgen, bis die Küken fliegen können.“
Wir beobachteten weiter.
„Katzen werden sie fangen“, sagte sie. „Oder Krähen oder dumme Hunde.“
Papa kam aus unserem Haus heraus. Er kam zu Minas Garten. Mina drückte den Finger an die Lippen und machte große Augen, um ihn zu warnen. Auf Zehenspitzen schlich er zu uns.
„Die Küken sind aus dem Nest“, flüsterte sie.
Sie zeigte ihm, wohin er schauen musste.
„Ja“, flüsterte er. „Ja. Ja.“
Dann hockte er ganz still neben uns.
„Sie sind wirklich wunderschön“, sagte er.
Er legte seine Hand auf meine Wange, und wir schauten einander tief in die Augen. Dann musste er gehen.
„Glaub weiter fest daran“, sagte er. „Und alles wird gut.“
Er ging zum Auto und fuhr, so leise er konnte, davon. Mina und ich sahen zu und warteten ab, während die braune Mutter und der rabenschwarze Vater hin und her flogen und ihre Jungen fütterten.
38
Später Vormittag. Minas Mutter brachte uns Tee. Sie setzte sich neben uns auf die Treppe. Sie erzählte von den Küken, von den Blumen, die plötzlich aufgeblüht waren, von der Luft, die jeden Tag wärmer wurde, von der Sonne, die jeden Tag ein bisschen höher stieg und ein bisschen wärmer war. Sie redete darüber, wie durch den Frühling die Welt auf einmal wieder in das Leben zurückkehrt, nachdem sie Monate lang wie tot dagelegen hatte. Sie erzählte uns von der Göttin Persephone, die gezwungen war, das halbe Jahr in der Dunkelheit tief unter dem Boden zu verbringen. Wenn sie dann im Inneren der Erde eingeschlossen war, herrschte Winter. Die Tage wurden kürzer, sie wurden kalt und dunkel. Lebewesen versteckten sich. Wenn Persephone freigelassen wurde und sich wieder langsam auf den Weg zur Welt hinauf machte, kam der Frühling. Die Welt wurde heller und lebhafter, um sie zu begrüßen. Die Welt war dann voller Wärme und Licht. Die Tiere wagten es aufzuwachen, sie wagten es, Junge zu bekommen. Pflanzen wagten ihre Schösslinge und Knospen zu entfalten. Das Leben wagte zurückzukommen.
„Eine alte Sage“, sagte ich.
„Ja“, sagte sie. „Aber vielleicht ist es eine Sage, die beinahe wahr ist. Schau dich um, Michael. Vogeljunge und Blüten und helles Sonnenlicht. Vielleicht ist das, was wir um uns herum sehen, die ganze Welt, die Persephone begrüßt.“
Sie ließ ihre Hand auf meinem Arm liegen.
„Ärzte können Wunder vollbringen, Michael.
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