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Zeit des Mondes

Zeit des Mondes

Titel: Zeit des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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sie es sieht?“, flüsterte ich.
    „Es könnte irgendjemand sein“, sagte Mina. „Oder irgendetwas.“
    Ihre Mutter wandte sich uns zu.
    „Gut, was, Michael?“, sagte sie.
    Ich nickte.
    „William Blake hat dergleichen gesehen. Er sagte, wir seien von Engeln und Geistern umgeben. Wir müssten unsere Augen nur ein bisschen weiter aufmachen, nur ein bisschen genauer hinsehen.“
    Sie nahm ein Buch vom Regal, zeigte mir Blakes Bilder von den geflügelten Wesen, die er in seinem kleinen Haus in London gesehen hatte.
    „Vielleicht könnten wir alle solche Wesen sehen, wenn wir nur wüssten wie“, sagte sie.
    Sie berührte meine Wange.
    „Aber es reicht mir, dass ich zwei Engel an meinem Tisch habe.“
    Sie starrte uns durchdringend an, mit weit geöffneten Augen und ohne zu blinzeln.
    „Ja“, sagte sie lächelnd. „Ist das nicht erstaunlich? Ich sehe euch deutlich vor mir, zwei Engel an meinem Tisch.“
    Ich dachte an meine Schwester. Ich fragte mich, was sie mit ihren unschuldigen Augen sehen würde. Ich fragte mich, was sie sehen würde, wenn sie dem Tod nahe wäre.
    Ich hörte auf, mich in Gedanken mit ihr zu beschäftigen. Ich zog ein Blatt Papier zu mir und malte einfach drauf los. Plötzlich wurde mir klar, dass ich Coot zeichnete, ich malte ihm verdrehte Arme und Beine und hellrotes Haar. Ich ließ ihm Haare wachsen, auf dem Rücken, auf der Brust, an den Beinen.
    „Das ist dein Freund“, sagte Mina. „Ein richtiger kleiner Dämon.“
    Ich schaute sie an, schaute an ihr vorbei, wollte wieder ihre geisterhaften Flügel sehen. Ihre Mutter fing an zu singen:
    „Ich träumte einen Traum! Sah, was ich bin?
Und war eine jungfräuliche Königin …“
    „Ich war heute wieder bei ihm“, flüsterte Mina.
    Ich ließ auf Coots Schädel Hörner wachsen.
    „Zuerst war ich bei dir. Dein Papa sagte, du seist in die Schule gegangen. Ob ich nicht auch lernen müsste, fragte er. Ob ich nicht auch Unterricht hätte?“
    Sie lehnte sich herüber und zeichnete eine dünne schwarze Zunge, die aus Coots Mund herauskam.
    „Milde Engel um uns geschart
haben vor witzlosem Weh bewahrt!“
    „Skellig fragte: ‚Wo ist Michael?‘“, flüsterte Mina. „‚In der Schule‘, sagte ich. ‚Schule!‘, sagte er. ‚Er lässt mich wegen der Schule im Stich!‘ Ich sagte, du hättest ihn nicht im Stich gelassen. Ich sagte, dass du ihn liebst.“
    „Das stimmt“, flüsterte ich.
    „Ich sagte, wie sehr es dich ängstige, dass das Baby sterben könnte.“
    „Sie wird nicht sterben“, sagte ich. „Sie darf nicht.“
    „Er sagte, du müsstest weiterhin zu ihm kommen.“
    Sie biss sich auf die Lippen und beugte sich noch weiter herüber.
    „Er sagte, er gehe bald fort, Michael.“
    „Mit entfaltenen Schwingen flog er davon,
dann blühte der Morgen wie roter Mohn.“
    „Fort?“, sagte ich.
    „Ja.“
    „Wohin?“
    Sie schüttelte den Kopf. „Das hat er nicht gesagt.“
    „Wann?“
    „Bald.“
    Meine Hände zitterten. Ich holte mir noch mehr Papier. Ich zeichnete Skellig, der über einen hellen Himmel flog.
    „Schon flogen die Engel wieder her,
umsonst, sie prallten ab an meiner Wehr.“
    Ihre Mutter beugte sich über den Tisch und machte Platz für die Teller. „ Ach, die Jugendzeit vorüber war “, sang sie, „ und mein Kopf bedeckt mit grauem Haar .“
    „Jetzt kommt“, sagte sie. „Packt zusammen. Das Essen ist fertig. Das ist ein wunderschönes Bild, Michael.“

35
    Wir saßen am Tisch und warteten, es wurde dunkler und dunkler, aber Papa kam nicht. Ich ging immer wieder ins Wohnzimmer, schaute auf die Straße hinaus, aber ich sah nichts.
    Minas Mutter tröstete mich. „Mach dir keine Sorgen, Michael. Er kommt bald. Mach dir keine Sorgen, Michael. Ich bin sicher, alles wird gut.“
    Wir zeichneten und zeichneten. Ich zeichnete meine um das Baby versammelte Familie. Ich zeichnete Mina mit ihrem blassen Gesicht, ihren dunklen Augen, mit ihrer schwarzen Ponyfrisur, die ganz genau an den Brauen aufhörte. Ich zeichnete Skellig, wie er dürr, staubig und sinnlos auf dem Garagenboden lag, dann zeichnete ich ihn, wie er stolz am bogenförmigen Fenster stand, während die Käuze um ihn herumflogen. Ich starrte auf den veränderten Skellig. Wie war das bloß möglich? Waren es bloß chinesisches Essen und Lebertran und Aspirin und helles Bier und die von den Käuzen übrig gelassenen Tierreste? Ich zeichnete Ernie Myers in einem gestreiften Schlafanzug, wie er in die Wildnis hinausschaut. Ich spürte, dass meine

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