Zeit des Mondes
Hand und mein Arm immer freier wurden, je mehr ich zeichnete. Ich sah, dass das, was auf dem Papier erschien, immer mehr dem glich, was ich sah oder was ich mir vorstellte. Ich spürte, wie ich mich durch das Zeichnen konzentrierte, auch wenn ich noch sorgenvoll an das Baby dachte. Immer wieder einmal zeichnete ich meine Schwester, entweder spezialisierte ich mich auf ihre großen, kühnen Augen oder auf ihre winzigen Hände oder darauf, wie sie den ganzen Körper bog, wenn sie bei einem auf dem Knie saß. Ich zeichnete die Welt, wie meine Schwester sie vielleicht sah: die Station im Krankenhaus mit all den herumtrampelnden Erwachsenen, das Netz von Drähten und Schläuchen und die piepsenden Apparate im Vordergrund, die Gesichter der Krankenschwestern, die herablächelten. Ich zeichnete die Welt durch das gewölbte Glas des Brutkastens, der sie umschloss, zu seltsamen Formen verkrümmt. Schließlich zeichnete ich Skellig an der Tür zur Station. Ich spürte ihre plötzliche Aufgeregtheit bei diesem Anblick, ihr schneller schlagendes Herz, das Aufflackern ihres Lebens.
Mina schaute sich meine Zeichnungen an, eine nach der anderen. Sie legte sie vor sich zu einem Stapel. Sie griff nach meiner Hand.
„So hättest du vorher nicht zeichnen können“, sagte sie. „Du wirst immer mutiger und ausdrucksvoller.“
Ich zog die Schultern hoch. „Je länger du Fußball spielst, desto besser spielst du“, sagte ich. „Je mehr du zeichnest, desto besser zeichnest du.“
Wir warteten und warteten. Es wurde dunkler. Die Amseln sangen in Bäumen und Hecken. Minas Mutter knipste eine Lampe an. Das Telefon läutete, aber es war nicht Papa. Minas Mutter gab uns kleine Schokoladenstücke, die ich langsam auf meiner Zunge zergehen ließ. Von Zeit zu Zeit sang sie. Lieder von Blake und alte Volkslieder. Manchmal sang Mina mit ihrer kräftigen hohen Stimme mit.
„Die Sonne versinkt im Westen,
Am Himmel schon der Sterne Schein,
Die Vögel still in ihren Nestern,
Ich werd’ es auch bald sein …“
Mina lächelte, weil ich still war.
„Wir bringen dich schon noch zum Singen“, sagte sie.
Es wurde immer dunkler.
„Ich will dir etwas zeigen“, sagte Mina.
Sie füllte eine kleine Schüssel mit warmem Wasser und stellte sie auf den Tisch. Sie holte aus dem Regal eine Kugel aus Haut, Knochen und Fell – ähnlich der, die sie vom Garagenboden aufgehoben hatte. Sie warf sie in das warme Wasser. Sie rieb mit ihren Fingern an ihr. Die Kugel löste sich in schwarze Fellstücke und Hautfetzen auf. Mina zog winzige Knöchelchen heraus. Einen Schädel, den Schädel eines winzigen Tiers. Ihre Mutter beobachtete und lächelte.
„Noch ein Kauzgewölle“, sagte sie.
„Ja“, sagte Mina.
Sie schaute mich an.
„Käuze schlingen ihre Opfer mit Haut und Haaren hinunter, Michael“, sagte sie. „Sie verdauen das Fleisch. Dann würgen sie die Teile, die nicht verdaut werden können, wieder heraus. Haut und Knochen und Fell. Wenn du das Gewölle untersuchst, kannst du sehen, was die Käuze gefressen haben. Dieser Kauz hat, wie die meisten Käuze, kleine Tiere wie Mäuse oder Wühlmäuse verschlungen.“
Ihre Mutter wandte sich ab und arbeitete am Spülbecken.
„Dies ist das Gewölle, das ich aus der Garage mitgebracht habe“, flüsterte Mina. „Es lagen dort dutzendweise solche Kugeln, Michael.“
„Die sind von Skellig“, flüsterte ich.
Sie nickte.
„Was bedeutet das?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Was ist er?“
Sie schüttelte den Kopf.
Ich konnte nichts mehr sagen.
„Etwas ganz Außergewöhnliches!“, flüsterte sie.
Sie fing wieder an zu singen. Als ich auf die Straße hinausschaute, sah ich Lichter in Fenstern, die Baumkronen schwarz umrissen im violetten Himmel. Ich schaute hinauf und sah die letzten Vögel zu ihren Nestern fliegen. Dann läutete noch einmal das Telefon und dieses Mal war es Papa. Minas Mutter hielt mir den Hörer hin. Ich konnte mich nicht bewegen. Sie lächelte.
„Komm doch“, sagte sie. „Komm.“
Papa sagte, alles sei gut. Das Baby schlafe. Er habe mit den Ärzten gesprochen. Er bleibe noch ein bisschen bei Mama.
„Geht’s dem Baby gut?“, sagte ich. „Was wollen sie machen?“
„Morgen werden sie operieren“, sagte er.
„Was werden sie machen?“
Keine Antwort.
„Papa, was werden sie machen?“
Ich hörte das Seufzen, die Angst in seiner Stimme.
„Sie operieren deine Schwester am Herzen, Michael.“
Er sagte noch etwas, aber ich konnte es nicht hören. Dass er
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