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Zeit des Mondes

Zeit des Mondes

Titel: Zeit des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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Risse im blassen Gesicht. Ein paar wenige feine farblose Haare wuchsen auf seinem Kinn. Die rote Soße unter den Lippen sah aus wie geronnenes Blut. Als er die Augen wieder öffnete, sah ich die winzigen roten Adern wie ein dunkles Netz über dem Weiß der Augen. Es roch nach Staub, alten Kleidern, getrocknetem Schweiß.
    „Hast du genug gesehen?“, flüsterte er.
    „Woher kommst du?“
    „Nirgendwoher.“
    „Sie werden hier alles ausräumen. Was wirst du tun?“
    „Nichts.“
    „Was wirst du …“
    „Nichts, nichts und nichts.“
    Er schloss die Augen wieder.
    „Lass mir das Aspirin da“, sagte er.
    Ich schraubte den Deckel ab und stellte das Glasfläschchen auf den Boden. Ich musste einen kleinen Haufen harter Fellbälle zur Seite schieben. Ich hielt einen hoch ins Taschenlampenlicht und sah, dass er aus winzigen mit Fell und Haut zusammengeleimten Knöchelchen bestand.
    „Was schaust du denn an, he?“, sagte er.
    Ich legte den Ball auf den Boden zurück.
    „Nichts.“
    Die Amsel auf dem Dach sang lauter und lauter.
    „Ein Arzt kommt zu meiner Schwester“, sagte ich. „Ich könnte ihn zu dir bringen.“
    „Keine Ärzte. Niemand.“
    „Wer bist du?“
    „Niemand.“
    „Was kann ich tun?“
    „Nichts.“
    „Meine kleine Schwester ist sehr krank.“
    „Babys!“
    „Kannst du etwas für sie tun?“
    „Babys! Speichel, Kot, Erbrochenes und Tränen.“
    Ich seufzte. Es war hoffnungslos.
    „Ich heiße Michael. Ich gehe jetzt. Kann ich dir noch irgendetwas bringen?“
    „Nichts. 27 und 53.“
    Er rülpste wieder. Sein Atem stank. Nicht nur nach dem chinesischen Essen, sondern auch nach dem toten Zeug, den Schmeißfliegen, den Spinnen. Aus seiner Kehle kam ein würgendes Geräusch und er lehnte sich von der Wand weg, als ob er sich gleich erbrechen würde. Ich fasste ihm mit der Hand unter die Schulter, um ihm Halt zu geben. Dort spürte ich etwas, etwas, was von seiner Jacke zusammengehalten wurde. Er würgte. Ich versuchte nicht zu atmen, ihn nicht zu riechen. Ich langte ihm über den Rücken und spürte auch unter seiner anderen Schulter etwas. Etwas wie dünne, verschränkte Arme. Elastisch und biegsam.
    Er würgte, aber er erbrach sich nicht. Er lehnte sich an die Wand zurück und ich nahm meine Hand weg.
    „Wer bist du?“, sagte ich.
    Die Amsel sang und sang.
    „Ich würde es niemandem erzählen“, sagte ich.
    Er hob die Hand und sah sie sich im Taschenlampenlicht an.
    „Ich bin beinahe niemand“, sagte er. „Am meisten bin ich Arthur.“
    Er lachte, aber er lächelte nicht.
    „Arthur Itis“, krächzte er. „Der macht mir die Knochen kaputt. Zuerst versteinert er dich, dann lässt er dich zerfallen.“
    Ich betastete seine geschwollenen Knöchel.
    „Was hast du auf dem Rücken?“, sagte ich.
    „Eine Jacke, dann ein bisschen von mir, dann viel, viel von Arthur Itis.“
    Ich versuchte noch einmal meine Hand unter seine Schulter gleiten zu lassen.
    „Nicht gut“, krächzte er. „Nichts ist da noch gut.“
    „Ich gehe“, sagte ich. „Ich werde sie davon abhalten, hier auszuräumen. Ich werde dir alles Nötige bringen. Aber nicht Doktor Tod.“
    Er leckte sich die getrocknete Soße unter den Lippen weg.
    „27 und 53“, sagte er. „27 und 53.“
    Ich verließ ihn, ging zur Tür zurück und hinaus ins Licht. Die Amsel flog kreischend über die Gärten weg. Ich schlich auf Zehenspitzen ins Haus, stand einen Augenblick lang am Babybettchen, steckte die Hand unter die Decken und spürte das Rasseln des Babyatems und wie warm und weich das Baby war. Ich spürte, wie zart seine Knochen waren.
    Mama blickte zu mir auf, aber ich sah, dass sie noch schlief.
    „Hallo“, flüsterte sie.
    Ich ging auf Zehenspitzen ins Bett zurück.
    Als ich schlief, träumte ich, mein Bett sei ganz aus Zweigen, Blättern und Federn, genau wie ein Nest.

11
    Am nächsten Morgen sagte Papa, er könne sich kaum bewegen. Er war ganz krumm. Er sagte, sein Rücken sei endgültig hin. Er war steif wie ein Brett.
    „Wo ist das Aspirin?“, rief er die Treppen hinab.
    Mama lachte. „Die viele Bewegung wird ihm guttun“, sagte sie. „So wird er sein Fett wieder los.“
    Er rief noch einmal: „Ich sagte, wo ist verflixt noch mal das Aspirin?“
    Ich küsste das Baby und rannte zum Bus.
    An diesem Vormittag hatten wir Biologie bei Rasputin. Er zeigte uns ein Plakat mit unseren Vorfahren, mit den endlosen Gestaltveränderungen, die zum Menschen geführt hatten. Es waren kleine Affen und größere Affen, in

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