Zeit des Verrats: Finnland-Krimi: Finnland-Krim
Startkapital aus der Konkursmasse der Sowjetunion unter den Nagel gerissen, als Ölvorkommen, Gasfelder und Schmelzhütten privatisiert worden waren. Zwischenzeitlich hatte man sie nach altem Muster aus dem Weg geräumt, wegen Steuerhinterziehung angeklagt und in Lagern jenseits des Ural dahinvegetieren lassen. Oder bedrängt, bis sie ins Ausland zogen, wo sie in irgendeiner Fußballmannschaft mitspielen konnten.
Und fürchten mussten, dass jemand kam und sie umbrachte.
Ich stand auf und wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Es roch so stark nach Chlor, dass mir die Augen brannten. An der Tür zum Speisesaal schlugen mir die Töne des Saxophons entgegen. Ich ging ruhig zurück an unseren Tisch und wusste, dass mein Gesicht nichts verriet.
Aber ich hatte immer noch Angst.
5
Die Frau saß am Küchentisch, einen Laptop vor sich. Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch, starrte ihre Berechnungen auf dem Bildschirm an, sprach ab und zu halblaut vor sich hin und tippte Korrekturen ein. Sie trug einen Rock und einen beinahe respektabel wirkenden Blazer. Die Pumps hatte sie abgestreift und hockte mit untergeschlagenen Beinen da wie ein kleines Mädchen auf der Schulbank.
Das Haus war neu, aber auf alt getrimmt, passend zu den Grundstücken, die sich im Labyrinth der Kieswege verbargen, zu den Gärten, in denen alte, schon zu Bäumen herangewachsene Fliederbüsche und kleine Fußballtore standen. Von außen ähnelte das Haus dem kleineren Gebäude, das früher an dieser Stelle gestanden hatte und von dem das Feuer nichts übrig gelassen hatte als einige verkohlte Balken, eine traurige Grube, die einmal ein Keller gewesen war, und zwei Öfen, die aus den Mauern geragt hatten wie schwarze Knorren.
Manchmal sehnte sich die Frau nach dem alten Haus, schmerzlich und schneidend wie nach anderen ehemaligen und unwiederbringlich verlorenen Dingen. Aber sie freute sich über die neue, helle Küche, die selbsttätig schließende Tür zum Kühlraum und den lauschigen Patio auf der Gartenseite.
Die Tür vom Esszimmer zum Garten stand offen. DieFrau erhob sich, strich den Rock glatt und füllte ein Glas mit Weißwein aus der Schlauchpackung. Sie hätte auch eine Flasche aufmachen können, eine bessere Sorte. Ihr Mann, der Pfennigfuchser, war nicht da. Er tadelte sie zwar nicht ausdrücklich, guckte aber missbilligend.
Ich verdiene inzwischen genug, mehr als genug, um meine Getränke und was ich sonst noch konsumiere, selbst zu bezahlen, dachte die Frau und holte eine Schachtel Zigaretten aus der Handtasche. Sie ging hinaus. Die Rillen in den thermisch behandelten Planken des Patio drückten sich in ihre Fußsohlen. Mit leisem Lächeln versuchte sie, Ringe zu blasen. Das mag er auch nicht, der alte Sportler.
Die Frau drückte die Kippe aus, versteckte sie unter einem Stein an der Hecke und rieb die Finger an den Weißdornblättern ab, um den Geruch loszuwerden. Sie ging ins Haus, beugte sich über die Spüle und trank Wasser direkt aus dem Hahn, spülte den Mund aus. Dann trat sie leise an die Tür zum Kinderzimmer, spähte hinein und hielt den Atem an, damit der Zigarettengeruch den schlafenden Kindern nicht in die Nase stieg.
Anna schnaufte leise, sie lag auf dem Bauch im unteren Bett. Sie hatte nicht mehr im Gitterbettchen schlafen wollen, hatte darum gebettelt, mit Erkki ein Zimmer teilen zu dürfen, dabei hätte sie ein eigenes Zimmer bekommen können. Platz war ja genug.
Na, man fühlt sich beim Einschlafen eben sicherer, wenn man den Atem eines anderen hört, dachte die Frau, erinnerte sich an ihre kleine Schwester, die immer aufgeschreckt war, wenn die Birkenzweige im Wind geschaukelt hatten und Schatten über die Wände tanzten. »Und die Nacht strich am Fenster vorbei«, hatte ein Mann im Radio gesungen. Das hatte sich irgendwie bedrohlich angehört.
Anna dachte sicher, sie sei die kleine Schwester, obwohl Erkki nicht ihr Bruder war.
Aber was war Erkki eigentlich?, überlegte die Frau und betrachtete den kleinen Jungen im oberen Bett, der vor einem Jahr zu ihnen gekommen war. Zurückgeblieben, als seine Mutter verschwunden und auf Abwege geraten war. So hatte es ihr Mann jedenfalls vermutet, vielleicht sogar gewusst.
Das alles ist so ungeordnet, dachte die Frau. Erkki heißt eigentlich Sergej und ist nicht unser Sohn, aber dies hier ist sein Zuhause. Und obwohl es eigentlich dasselbe Zuhause war, sagte die Frau am Telefon immer, ich bin hier im neuen Haus. Und der Mann war zwar der alte, aber er war nicht ihr
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