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Zeit des Verrats: Finnland-Krimi: Finnland-Krim

Zeit des Verrats: Finnland-Krimi: Finnland-Krim

Titel: Zeit des Verrats: Finnland-Krimi: Finnland-Krim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matti Rönkä
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dem Roten Platz. Die Führung des Landes und der Partei auf dem Podest vor dem Mausoleum, in derselben Reihe die Vorsitzenden der Schwesterparteien und Präsidenten der sozialistischen Staaten, dampfender Atem im Frost. Und ich marschierte in den Reihen der jungen Sportler, ohne zu wissen und zu verstehen, unfähig, auch nur zu ahnen, dass die Schar, die dort oben winkte, bald fallen und die Sowjetunion nicht mehr existieren würde.
    Verdammt. Das war auch schon mehr als zwanzig Jahre her.
    Ich zwang mich, von der Kremlmauer nach Petrozawodsk zurückzukehren und an die Tischgesellschaft zu denken, die mich im Speisesaal des Sewernaja erwartete.
    Es fiel mir schwer, zuzugeben, dass mich auch Koljukows jüdische Partner misstrauisch machten. Und was noch verwerflicher war: Ich misstraute ihnen und scheute vor ihnen zurück, gerade weil sie Juden waren.
    Im Sowjetland wurden die Kinder in den Schmelzofen der Völker geworfen; in den Festreden und auf den Bildern arbeiteten alle Seite an Seite, mit den gleichen Chancen. Dennoch wusste jeder Finne, Deutsche, Armenier oder Este im Sowjetreich es besser. In den Papieren eines richtigen Sowjetbürgers stand als Nationalität Russisch. Bei der Tauglichkeit der anderen gab es graduelle Unterschiede, je nach der Zeit und der Situation, auch je nach Bedarf.
    Die Juden waren immer ein Kapitel für sich gewesen. Man empfand sie als fremd, und doch spielten sie im Orchester die erste Geige, leiteten als Wissenschaftler Institute und spielten besser Schach als alle anderen.
    Da musste irgendetwas faul sein.
    Die Erinnerung an die Parade im Frost war so intensiv gewesen, dass es mir vorkam, als seien die Fenster beschlagen und auf dem Wasser im Klobecken liege eine Eisschicht. Jetzt musste ich jedoch voller Wärme lächeln. Ich erinnerte mich nämlich an eine alte Tante aus der Nachbarschaft, Olga Birjukowa, die bei all ihrer liebevollen Großmütterlichkeit die Hauptschuld an meiner Judenphobie trug.
    Ich war bei Tante Olga gewissermaßen in Tagespflege gewesen, wenn Mutter mich nicht in den Kindergarten der Kolchose bringen wollte. Die Tante bewohnte ein Zimmer im Obergeschoss, wo ich den Tag verbrachte. Ich saß auf dem Bettrand, malte oder schnitt Pappfiguren aus, während Olga spann. Ihr Spinnrad surrte, verlockte einen beinahe, die Finger zwischen die Speichen zu stecken.
    Einmal hatte Olga Besuch von einer Verwandten aus ihrer alten Heimat, der Ukraine, und beim Teetrinken wurde die Unterhaltung lebhaft. Zwischendurch erinnerten sich die beiden Tanten an meine Anwesenheit und senkten die Stimme. Ich spielte weiter, schnappte aber Worte und Sätze über betrügerische Menschen auf, über etwas Grausames und Hinterhältiges.
    Zwi Migdal , hatte Olga gewispert, so getan, als spucke sie aus, pfui, um das lauernde Übel abzuwenden. So eine Organisation hat es gegeben, glaub mir, einen Geheimbund der Juden. In der alten Zeit haben sie junge Frauen aus den Bauerndörfern mit dem Versprechen auf eine lukrative Heirat angelockt, aber pah!, die Ärmsten wurden wer weiß wohin verfrachtet, als Freudenmädchen.
    Ach Herrgottchen, die ukrainische Tante hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und noch eins draufgesetzt. Man braucht gar nicht in den Erinnerungen zu kramen und den Staub der Geschichte aufzuschütteln. Odessa war seit jeher und ist auch in diesem gesegneten Moment in der Hand der Judengauner.
    Am Abend konnte ich es kaum erwarten, meiner Mutter zu erzählen, was ich von Tante Olga und ihrem Besuch gehört hatte. Mutter wurde so wütend, dass sie mir die Rutezweimal über den nackten Hintern zog. Ich schämte mich und war zutiefst erschüttert. Wie konnte Mamutschka so etwas tun! Die Birkenrute lag doch nur zur Abschreckung auf dem Fensterbrett, als Mahnung. Zum Schlagen war sie nicht da. Und ich hatte nicht einmal fragen können, was ein Freudenmädchen war. Das Wort klang nicht traurig, aber ich ahnte dennoch Schlimmes.
    Nachdem ich eine Weile geschluchzt hatte, streichelte Mutter mir den Rücken. Ihre Hände fühlten sich warm und schwer an. Die Juden sind ein wenig anders als wir, hatte Mutter gesagt, in einem Ton, der klarstellte, dass über das Thema nicht weiter gesprochen würde. Jetzt iss dein Abendbrot und dann ab ins Bett.
    Die Tür zur Toilette ging, aus der Nebenkabine war Plätschern zu hören. Ich ließ die alten Geschichten ruhen. Doch ich wusste, dass unter den Neureichen viele Juden waren.
    Ich korrigierte mich: Die Oligarchen hatten sich ihr

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