Zeit Des Zorns
Sind wir dem Ziel der sozialen Gleichheit und Freiheit näher gekommen, ohne die auch Gerechtigkeit nicht zu haben ist? Die Antwort ist: nur im Schneckentempo – wobei jeder Erfolg, den wir Staat und Kapital abringen, sofort einkassiert wird, sobald unsere Kräfte nachlassen. Auch die Forderungen der Französischen Revolution von 1789 nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind immer wieder auf der Strecke geblieben.
Ich gehöre zu den undogmatischen Linken, die in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland trotz Kritik an der DDR Linke wurden. Wir verachteten den Antikommunismus, die Massenreligion der Bundesrepublik, und kritisierten das Autoritäre, Undemokratische und Antiemanzipatorische an der DDR. Aber wir ahnten, was es für viele Menschen, die Konzentrationslager und Exil überlebt hatten, bedeutet haben muss, nach der Befreiung vom NS-Faschismus in und mit der DDR ein nichtkapitalistisches Land aufbauen zu können. Wir schätzten die bürgerlich-demokratischen Errungenschaften der Französischen Revolution von 1789 und verteidigen sie heute auch gegen ein Bürgertum, das sie – obwohl ebenjene Rechte und Freiheiten ihm zu so großem Vorteil gegen den Adel und die alte Obrigkeit gereichten – in den Dreck tritt. Wir rühmten die Pariser Kommune von 1871, die erste proletarische Revolution, und versuchen sie dem Vergessen zu entreißen. Wir standen auf der Seite der russischen Oktoberrevolution von 1917, geißelten aber den Stalinismus und, unter anderem, die zuweilen katastrophale Außenpolitik der Sowjetunion.
Bei aller Kritik an den Fehlern und inhumanen Folgen mancher Revolutionen – was ging ihnen voraus? Wogegen richteten sie sich, und wie wäre es den Menschen im feudalistischen Frankreichund im zaristischen Russland ergangen, hätte es keine notwendigerweise auch gewaltsamen Erhebungen gegeben? Hat nicht ihre ungeheure »Gutmütigkeit« (Marx) die Pariser Kommune im Mai 1871 in ihrem Blut ertränkt? Hätte die Bastille 1789 mit einer Lichterkette erstürmt werden können? Ist die Oktoberrevolution von 1917 als gewaltfreie Sitzblockade denkbar? Die Befreiung vom Faschismus durch eine Love-Parade?
Eine Ursache des großen Rollbacks, in dem wir uns heute befinden, ist die Auflösung der Sowjetunion 1991 und der anderen Staaten des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Ihr Niedergang ließ den Kapitalismus auf längere Sicht scheinbar konkurrenzlos zurück. Bei aller linken Kritik an der bürokratischen Kommandowirtschaft in der DDR und in der Sowjetunion hatte die Konkurrenz der Systeme nicht zu unterschätzende Vorteile. Reibungen und Freiräume waren entstanden, die die Befreiungsbewegungen in der sogenannten Dritten Welt für sich nutzen konnten. Kuba wäre immer noch eine ausgehungerte Kolonie, missbraucht als Kasino, Bordell und Hinterhof der USA, wäre die erste Revolution Lateinamerikas hier 1959 nicht gelungen und hätte sich Kuba nicht, mangels anderer Alternativen nach dem Embargo durch die USA, entschieden, mit der Sowjetunion zu kooperieren.
Wäre der Prozess der Entkolonialisierung Afrikas nicht noch tragischer verlaufen, hätte die Sowjetunion nicht zahlreiche Befreiungsbewegungen politisch, aber eben auch mit Waffen unterstützt? Wie viele weitere militärische Überfälle der US Army auf Trikontstaaten (unter ihnen zum Beispiel Korea, Guatemala, Indonesien, Kuba, Vietnam, El Salvador, Nicaragua, Grenada, Panama, Somalia, Sudan, Afghanistan, Jugoslawien und Irak) und wie viel zusätzliche mörderische Anschläge der CIA als beispielsweise auf gewählte linke Präsidenten wie Salvador Allende (Chile, 1973) oder Patrice Lumumba (Kongo, 1961) hätte es gegeben?
Wir in der Bundesrepublik hatten den Sozialstaat auch dieser Systemkonkurrenz zu verdanken. Der kapitalistische Frontstaat des Kalten Krieges, in dem wir lebten, musste beweisen, dass sein System das sozialere System war. Heute, wo die Herausforderung durch den »realen Sozialismus« fehlt, wird abgeräumt, was vor allemdie Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert in langen, oftmals blutigen Kämpfen erreicht hat. Kampferfolge werden mit rasender Geschwindigkeit zunichte gemacht.
Nach dem Rollback kam dann die Weltwirtschaftskrise, an deren Ende eine unvorstellbar große Zahl von Menschen schlechter dran sein wird als je zuvor, während kleine Kreise, auch dank unserer Steuergelder in Gestalt von staatlichen Rettungsfonds, die Chance zielstrebig genutzt haben werden, noch größere Teile des
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