Zeit Des Zorns
gesellschaftlichen Reichtums zu fressen.
Wir finden uns zurückgeworfen auf die Grundfragen und auf die Erkenntnis, dass es im Kapitalismus keinen automatischen sozialen Fortschritt gibt, von dem alle profitieren. Heute leben weltweit mehr als eine Milliarde Menschen in Slums. 2 Etwa so groß war die Weltbevölkerung, als der junge Friedrich Engels zwischen 1842 und 1844 durch die Armenviertel von Manchester und London-St. Giles ging, um Die Lage der arbeitenden Klasse in England zu studieren. 3
Fetische zerbrechen wie der vom Ende der Geschichte; Legenden platzen wie die vom überlegeneren System. Die Ärmsten haben es immer geahnt, aber große Teile der Mittelschicht, auch ihrer kritischeren Teile, wollten – bei allen Rückschlägen – an einen prinzipiell fortschrittlichen gesellschaftlichen Prozess glauben: ob aus Naivität, mangelnder politischer Bildung oder dem Wunsch, keine Erkenntnisse im eigenen Kopf zuzulassen, die die eigene materielle Existenz grundsätzlich in Frage stellten oder politische Praxis erforderten.
Der Busfahrer, den ich eingangs erwähnte, war im Grunde genommen kein militanter Mensch. Er ist Mitglied einer Gewerkschaft, von der er sich »sozialpartnerschaftlich« verraten sieht. Die frühere SPD/Grüne-Bundesregierung (1998–2005), die er hoffnungsvoll gewählt hatte, hat ihn kalt lächelnd in die Armut gestürzt. Die nachfolgenden Regierungskoalitionen aus CDU/SPD sowie CDU/FDP haben daran angeknüpft. Was soll der Mann tun?
* * *
Über den Sinn unseres Lebens entscheidet kein »höheres Wesen«, keine Kirche, keine Regierung und nicht das Kapital. Darüber bestimmen wir selbst. Für jeden Humanisten und Linken ist derMensch das zentrale Wesen, und es gilt, alle gesellschaftlichen Verhältnisse umzustürzen, in denen der Mensch seines Lebens, seiner Entfaltungsmöglichkeiten, seiner Gesundheit und seines Glücks beraubt wird. Karl Marx hat es vor fast 170 Jahren so formuliert:
»Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen , in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« 4
Das politische Ziel linker Politik ist es, gesellschaftliche Verhältnisse herzustellen, in denen der Mensch frei ist und sozial gleich. Erst dann kann das soziale Wesen Mensch selbstbestimmt mit anderen leben und zugleich alle seine verschütteten und drangsalierten Bedürfnisse und Fähigkeiten entdecken und entfalten.
Aber wie solche sozialen Verhältnisse herstellen, wie beginnen?
»Wir müssen bei den voraussetzungslosen Deutschen damit anfangen, dass wir die erste Voraussetzung aller menschlichen Existenz, also auch aller Geschichte konstatieren, nämlich die Voraussetzung, dass die Menschen imstande sein müssen zu leben, um ›Geschichte machen‹ zu können. Zum Leben aber gehört vor allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges andere. Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des Lebens selbst, und zwar ist dies eine geschichtliche Tat, eine Grundbedingung aller Geschichte, die noch heute, wie vor Jahrtausenden, täglich und stündlich erfüllt werden muss, um die Menschen nur am Leben zu erhalten.« 5
Was Marx hier sagt, formulierte Bertolt Brecht einige Jahrzehnte später, 1928 in der Dreigroschenoper , so:
»Ihr Herrn, die ihr uns lehrt, wie man brav leben
Und Sünd und Missetat vermeiden kann
Zuerst müßt ihr uns schon zu fressen geben
Dann könnt ihr reden: damit fängt es an.
Ihr, die ihr euren Wanst und unsere Bravheit liebt
Das Eine wisset ein für allemal:
Wie ihr es immer dreht und immer schiebt
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.
Erst muß es möglich sein, auch armen Leuten
Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden.« 6
* * *
Der Kapitalismus ist schon in seinem vermeintlichen Normalzustand eine Katastrophe für Mensch und Natur. Es gibt ihn nicht ohne Profit und nicht ohne Ausbeutung. Die beiden einzigen Quellen des Reichtums sind die Arbeitskraft des Menschen und die Naturressourcen. Der Kapitalismus strebt danach, sich diese Quellen allen Reichtums zu unterwerfen und sie maximal zu verwerten. Dass der Mensch dabei ruiniert, um Glück und Gesundheit und oft genug um sein Leben gebracht wird, dass die Natur dabei so vergiftet und zerstört wird, dass der Mensch in ihr nicht mehr gesund
Weitere Kostenlose Bücher