Zeit Des Zorns
Umständen lehrreich gewesen. Was sie aber 2008 fabrizierten, war etwas ganz anderes. Sie bauten hier und da marginale Selbstkritiken ein, um dann umso grobschlächtiger gegen die APO als Ganzes auszuholen. Die Geschichte wurde gefälscht. Es entstanden »wissenschaftliche« Texte und Beiträge, in denen sogar die Entstehungsbedingungen der APO geleugnet wurden: die alten Nazis, die uns damals überall umgaben, der Vietnamkrieg, diegrausamen Verhältnisse in den Kinder- und Jugendheimen, die widerlichen autoritären Strukturen allüberall, pädagogische Konzepte und Ordnungsvorstellungen aus der Nazizeit und nicht zuletzt die wahre Religion der Nachkriegszeit, der Antikommunismus.
Der aufdringlichste Wendehals war Götz Aly, der in seinem Buch Unser Kampf die APO systematisch mit der NS-Studentenbewegung verglich. 376 War also die faschistische Machtergreifung nichts als eine »schreckliche Jugenddiktatur« gewesen? Ähnlich trieb es Jutta Brückner mit ihrem Theaterstück Bräute des Nichts , in dem sie allen Ernstes Ulrike Meinhof mit Magda Goebbels gleichsetzte. 377 Beider Botschaft war: Rebellion ist kriminell, der oder die Rebellierende wahlweise faschistoid oder geisteskrank. Die Abrechnung mit der APO war eine organisierte Kampagne, an deren Ende alle begriffen haben sollten, wie verwerflich Protest, Widerstand und Revolte sind – rechtzeitig für die sozialen Erschütterungen durch die kommende Weltwirtschaftskrise.
Aber die Sache war so übertrieben und durchsichtig und die Erfahrung neuer Kämpfe (z.B. die Anti-Gipfelaktionen in Heiligendamm) doch auch so positiv, dass der Plan nicht aufging.
Beim – erfolgreicheren – Versuch, 68 zu verharmlosen und zu verkitschen, halfen die merkwürdigsten Zeitgenossen mit. Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann antwortete im Mai 2008 – im selben Interview, in dem er keine Weltwirtschaftskrise kommen sah – auf die Frage: »Sie sind ein Achtundsechziger?«: »Ich war kein Revoluzzer […]. Aber ich gehöre natürlich der Generation an, und ich habe miterlebt, wie eine in mancherlei Hinsicht erstarrte Gesellschaft, zum Beispiel in puncto Erziehung oder Sexualität, aufgebrochen wurde. Leider ist dann später aus manchen positiven Absichten und Ansätzen viel Negatives erwachsen. Aber zweifellos gab es damals eine Aufbruchstimmung.« 378
Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll – es sei ihm gegönnt. Die Mitläufer und Zuschauer, so streberhaft sie sich auch auf ihre Karrieren vorbereiteten, profitierten eben auch von besserer Musik, freizügigerem Sex und entspannteren Umgangsformen. Aber natürlich bleibt in ihrer Erinnerung der politische Kern der außerparlamentarischen Revolte auf der Strecke: der Kampf gegen Krieg und Kapitalismus,der Abscheu gegen alte und neue Nazis und ein umfassender Begriff sozialer Emanzipation.
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Der Versuch, die APO endgültig zu diffamieren, misslang. Die nächste Runde ist 2018 zu erwarten. Heute setzt die politische Klasse auf die Stimulation nationaler Gefühle. Das soll helfen, die Vorstellung zu schwächen, dass diese Verhältnisse Widerstand verdienen. Wir sitzen aber nicht »alle in einem Boot«, sondern die einen ersaufen im Meer oder schuften im Maschinenraum und die anderen logieren im Penthouse der Reederei. Es bedarf also einer Meuterei. Das Gift des Nationalismus ist in Deutschland immer virulent. Es wird besonders gern gespritzt, wenn dem Kapitalismus Gefahr droht. Dann entwickelt sich die Ideologie der »nationalen Schicksalsgemeinschaft«, und auf einmal gibt es keine sozialen Klassen mehr und keine antinationale internationale Solidarität. Der Arbeitslose in England, der Wanderarbeiter in China, die Gewerkschafterin in Venezuela, der revoltierende Jugendliche in Griechenland – alle rücken plötzlich noch weiter weg. Dem national berauschten Deutschen ist sein deutscher Kapitalist näher als ein Mensch ähnlicher sozialer Lage, der wie der Zufall der Geburt es so will, in einem anderen Teil der Welt aufgewachsen ist.
Wenn der deutsche Untertan erst einmal mit Pomp und Fahnen Mitglied der nationalen Schicksalsgemeinschaft geworden ist, wird seine Opfer- und Verzichtsbereitschaft größer. Er fragt nicht mehr, was der tote Soldat eigentlich am Hindukusch verloren hatte, er verachtet Streikende und sieht auf Menschen anderer Herkunft, Hautfarbe oder Religion herab. Dafür winkt ihm die scheinbare Hilfe der deutschen Volksgemeinschaft bei der Überwindung der Schrecknisse des Lebens, der Angst vor dem Fremden, vor
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