Zeit Des Zorns
lassen sich die Flut und Art der »Fehler« bei den Ermittlungen nicht mehr erklären. Dass wir die ganze Wahrheit über die Beziehungen zwischen Staatsorganen und organisierten Nazibanden bald erfahren werden, ist zu bezweifeln.
Vielleicht geht der Staat mancherorts so unsagbar nachlässig gegen Nazis vor, weil er sie vor allem in Krisenzeiten braucht. Und was haben kritische Menschen und Linke von einem Staat wie diesem in Zeiten der Krise und der sozialen Polarisierung zu erwarten? Die Gefahr ist groß, dass sich rechtsextreme und faschistische Kräfte ausbreiten. Das müssen nicht unbedingt alleinSchläger mit stahlkappenbewehrten Stiefeln sein. Es gibt sie auch in maßgeschneiderten Schuhen.
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In Deutschland hat radikaldemokratischer und linker Widerstand keine besonders erfolgreiche Tradition. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, dem wir es verdanken, dass es zu den Auschwitz-Prozessen (1963–1965) gekommen ist, hat kurz vor seinem Tod im Juli 1968 darauf hingewiesen, dass ein ureigenes Widerstandsrecht des Menschen existiert, welches sich gegen den Staat und die Obrigkeit richtet. Mit den Notstandsgesetzen war im Mai 1968 das Grundgesetz zum 17. Mal geändert worden. Gegen die neue Notstandsverfassung hatten Linke und Radikaldemokraten zehn Jahre lang protestiert, eine der Ersten hieß 1960 Ulrike Meinhof. Scheinbar, um ihnen entgegenzukommen, ist in den Artikel 20 des Grundgesetzes ein vierter Absatz aufgenommen worden: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.«
Bauer schloss sich ausdrücklich den Kritikern an, die diesen Passus eine »Perversion des Widerstandsrechts« nannten: »Das Recht zum Ungehorsam und das Recht zum Widerstand […] sind historisch überlieferte Institutionen, deren Inhalt nicht beliebig umfunktionalisiert werden kann.« Die Notstandsgesetzgebung aber erfasse nicht nur den »Staatsstreich von oben, sondern auch den durch revolutionäre Kräfte aus dem nichtstaatlichen Bereich unternommenen Putsch von unten. Dieses ist mit dem Begriff eines Widerstandsrechts, wie er sich durch Jahrhunderte und Jahrtausende gebildet hat, schlechthin unvereinbar.« Fritz Bauer weiter: »Das Widerstandsrecht – wenn das Wort überhaupt einen Sinn haben soll – kann sich nur gegen den ungerechten Staat, den Unrechtsstaat, die Tyrannis, richten; nie hat das Wort einen anderen Sinn besessen. Der Staat selbst braucht kein Widerstandsrecht. Seine Beamten, seine Offiziere und Soldaten haben Machtmittel genug.«
Für Bauer war der Kontrast zwischen Deutschland und Frankreich augenfällig: »Frankreich hatte seine Revolution. Es bekanntesich zu den Menschenrechten. Hierzu wurde sofort das Recht auf résistance gezählt. Anders in Deutschland. Die deutschen Philosophen machten im Kielwasser des autoritären Staates dem Widerstandsrecht der Jahrtausende den Garaus.« Bauer zitierte Kant, der dem Untertan kein bisschen Widerstand erlaubt, was auch immer der Staat verbricht, um den Menschen unglücklich zu machen. »Die Worte Kants, denen ganz ähnliche Hegels, auch […] Treitschkes und vieler anderer entsprechen, sind das Spiegelbild der sozialen Realität in Deutschland.« 371
Um diese fatale Tradition in der Bundesrepublik zu durchbrechen, mussten nach 1945 Karl Marx, Friedrich Engels und Rosa Luxemburg wiederentdeckt werden, musste die Frankfurter Schule mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer nach der Befreiung vom NS-Faschismus aus dem Exil zurückkehren und einer der ihren, Herbert Marcuse 372 , auf die junge westdeutsche Linke einwirken. Ein emigrierter deutscher Jude, vor seinen deutschen Mördern geflohen, dessen Bücher 30 Jahre nach seiner Flucht gelesen wurden und der das Recht auf »résistance« nach Deutschland zurückbrachte. So sehr zerstört hat sich Deutschland in der Nazizeit, und über die Spuren und Folgen stolpern wir noch immer.
Marcuse sprach von
»politischen Maßnahmen, Bedingungen und Verhaltensweisen […], die nicht toleriert werden sollten, weil sie die Chancen, ein Dasein ohne Furcht und Elend herbeizuführen, behindern, wo nicht zerstören. Diese Art von Toleranz stärkt die Tyrannei der Mehrheit. […] Ich glaube, dass es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein ›Naturrecht‹ auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben […]. Es gibt keinen anderen
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