Zeit für Plan B
»Lass mich hier raus!«
»Sei still und iss dein Frühstück, Jack«, rief Chuck in einem freundlichen Tonfall zurück.
»Leute, dafür werdet ihr in den Knast gehen!«, brüllte Jack. »Das schwöre ich. Dafür werde ich euch büßen lassen.« Er trat ein letztes, dröhnendes Mal gegen die Tür, und etwas später hörten wir dann, wie er sich nach unten beugte, um sein Essen aufzuheben.
»Wie lief’s?«, fragte Lindsey, als wir zurückkamen.
»Kein Problem«, sagte Chuck.
»Er klingt wirklich geistesgestört«, sagte ich, einigermaßen schockiert über das Ausmaß von Jacks Wut.
»Er macht jetzt den Entzug durch«, sagte Chuck. »Er ist es gewohnt, den Tag mit Koks als Starthilfe zu beginnen. Und jetzt bekommt er Panik, überlegt, woher er welches bekommen könnte.«
»Panik?«, fragte Alison.
»Stell dir vor, du wachst eines Morgens auf und stellst fest, dass deine Lungen nur noch halb so viel Sauerstoff aufnehmen können wie sonst immer«, sagte Chuck.
»Ist es wirklich so?«
»Ich weiß es nicht aus eigener Erfahrung, aber mir sind in der Notaufnahme mehr als genug Abhängige begegnet, und sie tun so ziemlich alles, um an irgendwelche Drogen zu kommen. Es ist verblüffend, wie einfallsreich sie sind. Da gibt’s Junkies, denen dieDrogen ausgegangen sind, die sich die Ohren abschneiden oder Nägel in die Hände rammen, nur um ein paar rezeptpflichtige Schmerzmittel zu bekommen.«
»O mein Gott!«, sagte Lindsey. »Ich glaube, du kannst uns die Details ersparen.«
»Na schön«, stimmte Chuck zu und biss in einen englischen Muffin. »Aber ich wollte euch nur vorbereiten.«
»Worauf?«
»Wenn er durchdreht, dann wird’s hier erst richtig losgehen.«
»Wovon redest du denn?«
»Er hatte noch gar keine Zeit zum Nachdenken. Er ist zu panisch«, sagte Chuck. »Sobald er sich beruhigt und seine Situation neu überdenkt, wird er anfangen, Fluchtpläne zu schmieden.« Er schluckte und sah uns der Reihe nach an. »Und das ist der Augenblick, in dem die Sache wirklich haarig wird.«
16
I ch bin noch in dem Alter, in dem die Leute sagen, ›sie hat noch nicht geheiratet‹«, meinte Lindsey etwas später an diesem Tag zu mir. Wir fuhren mit Alisons Beamer in Richtung Stadt, um noch etwas Tupperware zu kaufen, mit deren Hilfe wir Jack füttern konnten. Wir befanden uns auf einer zweispurigen Asphaltstraße, die sich etwa acht Meilen lang durch den Wald schlängelte, bevor sie auf die Route 57 stieß, die Hauptverkehrsader durch Carmelina.
»Du bist doch erst dreißig«, sagte ich.
»Ich weiß. Aber ich denke, es ist an der Zeit, dass ich anfange, mich meinem Alter entsprechend zu benehmen. Wieder als Lehrerin arbeiten oder so. Nicht mehr so verdammt flatterhaft sein. Im Augenblick können die Leute vielleicht noch sagen, ›sie hat noch nicht geheiratet‹, aber irgendwann in deinen Dreißigern überschreitest du eine Art unsichtbare Linie, und dann fangen sie an zu sagen, ›sie hat nie geheiratet‹.«
»Ich nehme an, du machst dir nicht nur um die Semantik Gedanken.«
»Nein.« Sie schwieg eine Minute. Sie hauchte gegen das Autofenster und begann mit dem Fingernagel auf der beschlagenen Scheibe herumzumalen. »Ich will irgendwann eine Familie«, sagte sie leise.
»Worüber ärgerst du dich denn eigentlich?«, fragte ich. Die Autoreifen wühlten etwas losen Schotter auf, als ich auf die Route 57 einbog.
»Über nichts. Ich weiß nicht«, sagte sie, wobei sie sich mit dem Mittel- und Ringfinger durchs Haar fuhr, eine Geste, die mir so vertraut war, dass ich einen Kloß im Hals bekam. »Ich habe keine Karriere, ich habe keine Familie, und ich weiß nicht, was ich alsNächstes tun soll. Ich war so fest entschlossen, allem zu entkommen, was beständig ist, und jetzt habe ich einfach nur das Gefühl, nirgends zu sein. Und was, wenn das nun in Ermangelung anderer Dinge das Einzige ist, was beständig sein wird?«
»Das wär ziemlich blöd.«
»Danke für deine Unterstützung«, sagte sie trocken. Am Straßenrand saß ein alter Mann neben ein paar Tischen, auf denen sich Kürbisse türmten, und rauchte Pfeife. Er trug ein Ka pu zen sweat shirt unter einem karierten Flanellhemd, und auf dem hölzernen Schild hinter ihm stand: »Noch 5 Tage bis Halloween.« Ich sah, dass die »5« auf ein auswechselbares Brett geschrieben stand, wie diese alten Anzeigetafeln für den Punktestand, die wir beim Baseball in der Little League hatten.
»Wir sind alle nirgends«, sagte ich, während ich beobachtete, wie der
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