Zeit im Wind
sanft.
»Warum habe ich dann dieses Gefühl?«
Sie rückte etwas näher an mich heran. Gemeinsam sahen wir den Flammen zu.
»Ich glaube, es liegt daran, daß du Angst hast und dich ganz hilflos fühlst, und obwohl du dir Mühe gibst, wird es immer schwieriger - für euch beide. Und je mehr Mühe du dir gibst, desto hoffnungsloser erscheint dir alles.«
»Was kann ich tun, damit dieses Gefühl aufhört?«
Sie legte ihren Arm um mich und zog mich zu sich heran.
»Nichts«, antwortete sie, »es gibt nichts.«
Am nächsten Tag war Jamie zu schwach, um aufzustehen. Zu schwach, um zu gehen, selbst wenn sie gestützt wurde. Wir lasen die Bibel in ihrem Zimmer.
Es verging eine weitere Woche, in der es Jamie immer schlechter ging und sie zusehends schwächer wurde. Bettlägrig, wie sie jetzt war, sah sie kleiner aus, fast wie ein kleines Mädchen.
»Jamie«, flehte ich sie an, »Was kann ich für dich tun?« Jamie, meine süße Jamie, schlief viele Stunden lang , auch wenn ich bei ihr war. Sie rührte sich nicht bei dem Ton meiner Stimme, ihr Atem ging hastig und flach.
Lange saß ich an ihrem Bett und sah sie an. Ich dachte daran, wie sehr ich sie liebte. Ich nahm ihre Hand - ihre Finger waren ganz knochig - und hielt sie an mein Herz. Am liebsten hätte ich auf der Stelle geweint, doch statt dessen legte ich ihre Hand wieder auf die Decke und sah aus dem Fenster.
Warum war meine Welt plötzlich so aus den Fugen geraten? fragte ich mich. Warum war all dies ihr geschehen? Gab es eine Lehre in dem, was geschah? War es alles, wie Jamie sagte, Teil der göttlichen Vorsehung? Hatte Gott es gewollt, daß ich mich in Jamie verliebte? Oder war das meine eigene Willensentscheidung? Je länger Jamie schlief, desto klarer spürte ich ihre Anwesenheit, aber die Antworten auf diese Fragen waren nicht klarer als vorher.
Draußen hörte der morgendliche Regen auf. Es war ein düsterer Vormittag gewesen, aber jetzt brach die Nachmittagssonne durch die Wolken. In der frischen Frühlingsluft sah ich die ersten Zeichen dafür, daß die Natur wieder erwachte. Die Bäume zeigten ein zartes Grün, die Blätter warteten nur auf den richtigen Moment, sich zu entfalten und einen neuen Sommer einzuleiten.
Auf dem Nachttisch waren die Dinge, die Jamie am Herzen lagen. Unter anderem standen da zwei Photographien von ihrem Vater. Auf dem einen Bild hält er Jamie als kleines Kind auf dem Arm, auf dem anderen stehen sie an Jamies erstem Schultag vor der Schule. Daneben lagen einige Karten, die von den Kindern im Waisenhaus geschickt worden waren. Seufzend nahm ich mir die oberste Karte. Mit Bleistift geschrieben stand da einfach:
Bitte werde bald gesund. Ich vermisse dich.
Es war von Lydia unterschrieben, dem Mädchen, das Weihnachten auf Jamies Schoß eingeschlafen war. Die zweite Karte sagte mehr oder weniger das gleiche, aber was mir besonders ins Auge stach, war das Bild, das der kleine Junge, Roger, gemalt hatte. Es zeigte einen Vogel, der sich über einem Regenbogen in die Lüfte erhebt.
Meine Kehle war wie zugeschnürt, als ich die Karte zuklappte. Ich konnte mir die anderen Karten nicht ansehen, und als ich sie wieder auf den Nachttisch legte, bemerkte ich einen Zeitungsausschnitt neben dem Wasserglas. Ich nahm ihn zur Hand. Es war die Besprechung des Theaterstücks, die in der Sonntagszeitung nach der Aufführung erschienen war. Das Photo über dem Text war das einzige Bild, das je von uns beiden gemacht worden war.
Es schien sehr lange her. Ich sah mir das Bild genauer an und erinnerte mich wieder an mein Gefühl, als ich Jamie auf der Bühne sah. Ich betrachtete ihr Bild intensiv und suchte nach Anzeichen, daß sie den Fortgang der Dinge erahnte. Natürlich wußte sie es, aber ihr Gesichtsausdruck an jenem Abend gab nichts davon preis. Ich sah nur strahlendes Glück. Nach einer Weile seufzte ich und legte das Blatt wieder hin.
Die Bibel lag an der Stelle aufgeschlagen, wo wir aufgehört hatten zu lesen. Obwohl Jamie schlief, wollte ich weiterlesen. Dies waren die Worte, die ich fand:
Ich meine das nicht als strenge Weisung, aber ich gebe euch Gelegenheit, angesichts des Eifers anderer, auch eure Liebe als echt zu erweisen.
Die Worte schnürten mir die Kehle zu, aber als ich mich gerade meinen Tränen hingeben wollte, erschloß sich mir die Bedeutung plötzlich in leuchtender Klarheit.
Gott hatte mir endlich seine Antwort gegeben. Jetzt wußte ich, was ich zu tun hatte.
Auch mit einem Auto wäre ich nicht schneller zur
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