Zeit im Wind
nach Hause zum Abendessen. Meine Mutter aß mit uns und ging danach ins Fernsehzimmer, damit wir eine Weile allein sein konnten.
Ich fand es schön, so mit ihr zusammenzusitzen, und wußte, daß sie ähnlich empfand. Da sie nicht mehr viel aus dem Haus ging, hatte sie so eine kleine Abwechslung.
Seit Jamie mir von ihrer Krankheit erzählt hatte, trug sie ihr Haar nicht mehr im Knoten. Jedesmal, wenn ich sie mit offenem Haar sah, war ich genauso ergriffen wie beim ersten Mal. Sie betrachtete den Inhalt der Glasvitrine - meine Mom hatte eine von denen mit Innenbeleuchtung -, als ich über den Tisch hinweg ihre Hand nahm.
»Danke, daß du heute abend gekommen bist«, sagte ich. Sie wandte sich zu mir um. »Danke, daß du mich eingeladen hast.«
Nach einer Weile fragte ich: »Wie geht es deinem Vater?«
Jamie seufzte. »Nicht besonders gut. Ich mache mir große Sorgen um ihn.«
»Er hat dich sehr lieb, das weißt du.«
»Ja.«
»Ich dich auch«, sagte ich, worauf sie den Blick abwandte. Es schien ihr angst zu machen, das zu hören.
»Kommst du auch weiterhin zu mir nach Hause?« fragte sie. »Ich meine, auch später, wenn…?«
Ich drückte ihr die Hand, nicht fest, nur so, daß sie wußte, daß ich es aufrichtig meinte.
»Solange du möchtest, daß ich komme, komme ich auch.«
»Wir brauchen nicht die Bibel zu lesen, wenn du das nicht möchtest.«
»Doch«, sagte ich, »ich glaube, wir müssen damit weitermachen.«
Sie lächelte.
»Du bist so ein guter Freund, Landon. Ich weiß nicht, was ich ohne dich täte.«
Jetzt drückte sie mir die Hand. Sie saß mir gegenüber und sah mich strahlend an.
»Ich liebe dich, Jamie«, sagte ich wieder, und diesmal war sie nicht voller Angst. Statt dessen begegneten sich unsere Blicke, und ihre Augen begannen zu strahlen. Sie seufzte und wandte den Blick ab. Dann fuhr sie sich mit der Hand durch das Haar und sah mich wieder an. Ich küßte ihr die Hand und sah ihr in die Augen.
»Ich liebe dich auch«, flüsterte sie schließlich. Ich hatte gebetet, diese Worte hören zu dürfen.
Ich weiß nicht, ob Jamie mit ihrem Vater über ihre Gefühle für mich gesprochen hatte, aber ich glaubte es nicht, denn sein Verhalten hatte sich nicht verändert. Er hatte es sich angewöhnt, das Haus zu verlassen, wenn ich nach der Schule vorbeikam, und das tat er auch weiterhin. Jeden Tag, wenn ich an die Tür klopfte, hörte ich, wie Hegbert Jamie erklärte, daß er jetzt gehen und in zwei Stunden zurück sein würde. »Ist gut, Daddy«, hörte ich sie jedesmal sagen, dann wartete ich, daß Hegbert die Tür aufmachte. Wenn er mich eingelassen hatte, holte er Mantel und Hut aus dem Garderobenschrank, zog sich an und knöpfte den Mantel ganz zu, bevor er ging. Er hatte einen altmodischen Mantel, einen langen, schwarzen Trenchcoat ohne Reißverschlüsse, wie sie früher modern waren. Er sprach selten direkt mit mir, sogar nachdem er erfahren hatte, daß Jamie und ich zusammen die Bibel lasen.
Obwohl er eigentlich nicht wollte, daß ich in seiner Abwesenheit im Haus war, ließ er es dennoch widerwillig zu, damit Jamie sich auf der Veranda nicht erkältete. Die einzige Alternative war, daß er zu Hause blieb, während ich da war. Aber ich glaube, Hegbert brauchte auch Zeit für sich, und deswegen kam es zu dieser Veränderung. Er erklärte mir nicht die Hausregeln - sie standen in seinen Augen geschrieben, als er mir das erste Mal erlaubte zu bleiben. Ich durfte mich im Wohnzimmer aufhalten, und das war's.
Jamie konnte sich noch gut bewegen, doch der Winter war kalt und ungemütlich. Im Januar wehte neun Tage lang ein eisiger Wind, danach setzten schwere Regenfälle ein, die drei Tage andauerten. Bei diesem Wetter wollte Jamie das Haus gar nicht verlassen, aber manchmal, wenn Hegbert gegangen war, standen wir für ein paar Minuten an der Tür, um die frische Meeresbrise einzuatmen. Immer, wenn wir da standen, machte ich mir Sorgen um sie.
Mindestens dreimal am Tag klopften Besucher an, während wir die Bibel lasen. Oft kamen Nachbarn vorbei; manche brachten etwas zu essen, andere wollten nur hallo sagen. Sogar Eric und Margaret machten einen Besuch. Jamie ließ sie herein, obwohl sie es eigentlich nicht durfte, und wir saßen im Wohnzimmer beisammen und unterhielten uns eine Weile. Die beiden konnten Jamie nicht in die Augen sehen.
Sie waren nervös und brauchten eine Weile, um zu dem Grund ihres Besuches vorzustoßen. Eric wollte sich bei Jamie entschuldigen, sagte er und fügte hinzu,
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