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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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Wesens und folgten der Fährte vom Ufer in die Wälder und schließlich über offenes Feld.
    Es war Mitternacht, als sie in der Ferne das rote Licht sahen. Die stinkenden Fußabdrücke des Wesens führten direkt darauf zu. Sie blickten einander an und folgten ihnen.
    Es war das alte Bordell, dem sie sich näherten, und das Wesen war da.

 
Kapitel 3
     
    Worin sich zeigt, dass das Leben
    ein Strom der Qual ist
     
    B rennende Fackeln erfüllten die Höhle mit schmierigem Licht. An die neunzig Menschen kauerten an ihrem Ende, von einem Dutzend Unglücksfällen in die Ecke getrieben. Die grausigen Wesen tauschten in ihrer gutturalen Sprache raue Laute. Am anderen Ende der Höhle drängte sich ein Schwarm Vampire. Viele schliefen zwischen alten Karren, manche unterhielten sich, andere schienen Pläne zu besprechen. Zwei nagten an dem weißen, sterbenden Körper eines Mannes namens Moor.
    Der Rauch der Fackeln stieg gespensterartig zur Decke hinauf, wo er in den Vertiefungen nistete, atemlos still. Die Unglücksfälle bestimmten ein paar aus ihrer Gruppe zur Bewachung, während die übrigen in abgestandenen Pfützen Platz zum Schlafen suchten. Unglücksfälle lagen gern im dünnen Schlamm modernder Höhlen. Es war fast Mitternacht.
    »Was werden sie mit uns machen?« fragte Dicey zum zwanzigsten Mal Rose. Sie kauerten in der Mitte der bewachten Fläche, umgeben von den entsetzten Gesichtern ihrer Mitgefangenen. »Werden wir sterben?« fragte sie, weil sie beruhigt werden wollte.
    Rose streichelte ihre junge Freundin zärtlich.
    »Sie werden uns nicht töten, Kind, keine Sorge. Wenn sie das tun wollten, hätten sie es längst getan.« Sie glaubte beinahe selbst daran. Auf jeden Fall war Dicey durch ihre Worte beruhigt. Man sah es ihr an. Ollie ging es nicht so gut. Er war seit dem Grauen in der Hütte stumm geblieben und starrte vor sich hin. Jetzt saß er wie eine lebende Puppe auf Diceys Schoß.
    »Wenn ich etwas zum Schreiben hätte, könnte ich uns hier herausholen«, flüsterte Dicey.
    Rose nickte geduldig. Obwohl sie ein bisschen lesen konnte, gehörte sie nicht der Religion der Schreibkunst an und glaubte nicht wirklich an die Magie des Schreibens. Freilich wollte sie nichts tun, um Diceys Hoffnung zu zerstören.
    »Wenn Josh hier wäre, könnte er machtvolle Zeilen schreiben«, fuhr Dicey fort. »Er kann das Wort zur Waffe schmieden. Er könnte sie alle in Schlaf lesen, und wir könnten fortgehen.«
    Rose lächelte.
    »Ich glaube nicht, dass Unglücksfälle vom Lesen viel halten, Schatz.«
    Dicey sah sie nachdenklich an.
    »Warum machen sie das mit uns?«
    »Schwer zu sagen. Aber Unglücksfälle hassen die Menschen, das weiß man. Bei den Vampiren und den anderen kenne ich mich nicht aus. Meine Mutter sprach von Vampiren unten im Süden. Abscheuliche Wesen. Die Unglücksfälle sehen grässlich aus, ich weiß, aber mit ihnen habe ich nur Mitleid. Die Vampire dagegen …« Sie spuckte aus.
    »Weshalb hassen die Unglücksfälle uns so?« fragte Dicey und ließ den Blick über die verschiedenartigen Gesichter der Monster gleiten.
    »Unglücksfälle sind früher Menschen gewesen, Kind, vor sehr langer Zeit, ehe es Schreiber gab, als die Zentauren auf ihrem eigenen Kontinent lebten und Vampire nie über die Grenzlinie nach Norden flogen. Sie waren Menschen, aber sie nahmen einen Trank zu sich, von dem sie glaubten, er werde sie zu Göttern machen, und er verwandelte sie in das, was sie jetzt sind. Jetzt hassen sie die Menschen, die es noch gibt, weil die nicht auch getrunken haben.«
    »So steht es aber nicht im Buch –«
    »Bücher wissen nicht alles, Kind.«
    »Nenn mich nicht Kind«, sagte Dicey schmollend. »Und Bücher wissen doch alles. Das Buch, das ich gelesen habe, sagt, dass es Unglücksfälle gar nicht gegeben hat, dass sie nur Erfindungen von uns waren, weil wir uns bestrafen wollten für –«
    »Dicey, diese Unglücksfälle sind Wirklichkeit, keine Einbildung. Ihr Geruch allein müsste schon genügen, dass dir schlecht wird.« Das war, zumindest, was Rose anging, der Haken bei der Schreibkunst – viele Dinge waren Märchen und unterschieden nicht zwischen Geschichte und bildlichem Ausdruck.
    Das junge Mädchen schwieg. Zwei Ungeheuer an der Wand stritten um die Überreste eines alten Mannes, den sie verzehrten. Dicey schien einem hysterischen Anfall nah zu sein. Rose drehte sie an den Schultern herum.
    »Lass mich deine Augen lesen«, sagte sie, um das Mädchen zu beschäftigen. Sie starrte angestrengt

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