Zeit und Welt genug
in Diceys linkes Auge. Es war dunkel und unergründlich, wie eine endlose Nacht.
»Was siehst du?« fragte Dicey.
»Glück und langes Leben«, log Rose. Sie konnte gar nichts sehen.
Der Mond war eine gelbe, reife Frucht tief am Himmel, vor dem Platzen. In der Nähe konnte man den friedlichen Pazifik seufzen hören. Der Wind schlief. Josh und Beauty näherten sich dem Bordell ganz langsam und genossen die letzten erwartungsvollen Augenblicke von Furcht und Kitzel – die Lust des Jägers.
Das Bordell war ein grandioses altes Holzhaus, zwei Stockwerke hoch, mit Giebeln, angebauten Flügeln und Gartenhäuschen. Auf das offene Feld vor dem Gebäude ging ein großes Glasfenster hinaus. Im Fenster brannten drei dicke Kerzen in durchsichtigen roten Plastiktöpfen. Überall im Zimmer konnte man Kerzen flackern sehen. Sie machten aus den schattenhaften Gestalten, die sich dort bewegten, unheimliche, wandelbare Geschöpfe.
Hinter dem Haus stand eine riesige Scheune neben einer Windmühle, die sonst etwas Strom für Lampen, Kühlschrank und Spiele lieferte. Aber es gab keinen Akkumulator, Strom also nur, wenn Wind wehte, und in dieser Nacht war er eingeschlafen. Eine stille Nacht.
Josh stieg die fünf wackeligen Stufen zur Eingangstür hinauf und klopfte. Beauty wartete unten. Der Plan sah vor, dass sie als Kunden auftraten und sich insgeheim umsahen; der verwundete Unglücksfall sollte, wenn irgend möglich, lebend gefasst werden – er musste die Jäger zu seinen Komplicen und zu den gefangenen Menschen führen.
Schritte näherten sich. Die Tür ging auf. Die alte Bordellmutter stand im Abendkleid vor ihnen, dreieinhalb Zentner schwer. Ihr Gesicht war grell bemalt. Auf dem Kopf trug sie eine Pfauenfederperücke. Zwei breitschultrige Rausschmeißer standen neben und hinter ihr.
Die alte Bordellmutter sah Josh an, blickte kurz auf Beauty hinter ihm, dann richtete sie ihre Augen wieder auf den jungen Menschen.
»Komm nur rein, Verdruss, auf dich haben wir schon gewartet.« Ohne Beauty anzusehen, fügte sie hinzu: »Für seinesgleichen haben wir hinten einen Stall.«
Beauty blähte die Nasenflügel und tänzelte ein paar Schritte zurück. Josh drehte sich nach ihm um.
»Lass das«, sagte er leise und fügte laut hinzu: »Der Stall ist vielleicht genau das, was du suchst.« Er drehte den Kopf und zwinkerte die Alte an. Sie lächelte; Pferde konnte sie nicht leiden, aber Ärger wollte sie vermeiden.
Beauty nahm Beleidigungen sonst nicht hin, aber er verstand, was Joshua meinte, und wusste, dass er recht hatte; das Wesen mochte ebenso gut im Stall sein. Außerdem verschaffte ihm das Gelegenheit, sich umzusehen. Er bäumte sich kurz auf und trabte um das Haus herum. Joshua trat ein.
Im Inneren wirkte das Haus noch größer als von außen. Ein riesiger Raum mit hoher Balkendecke erstreckte sich nach rechts. Er war beleuchtet von einem Kristalllüster, der im Licht vieler Kerzen funkelte. Ein Pianospieler hopste wild in der Ecke. Links führte eine mit einem Läufer ausgelegte Wendeltreppe nach oben. Daneben spielte in einem Nebenzimmer mit offener Tür eine Sechsergruppe lärmend Karten.
Joshua betrat den großen Raum. Die Alte sagte: »Du findest schon was, Verdruss, dann reden wir drüber.« Sie ging davon und überließ Josh sich selbst.
Der Raum war voll von Käufern und Verkäufern aller Art. Im schwachen, wabernden Kerzenlicht handelte man leise miteinander. In einer Ecke sprach ein bleicher, hagerer Mann halblaut mit einer Vampirin; sie war nackt, wenn auch lose in ihre braunen Flügel gehüllt. Der Mann schob die Hand unter die glatte, dünne Flügelhaut und streichelte die Wölbung ihrer schweren Brust. Sie warf den Kopf zurück und lachte kehlig. An ihrem Mundwinkel schimmerte ein langer weißer Zahn.
Auf dem Sofa lungerte ein Satyr, die Bockbeine auf dem Tisch, ein Lächeln im Gesicht, eine junge Frau auf dem Schoß, eine zweite neben sich. Ihre feuchten Augen waren getrübt, ihre Hände wühlten in seinem Fell; es war nicht gleich erkennbar, ob der Satyr kaufte oder verkaufte.
Im Treppenhaus tanzten Schatten.
Dort, wo es im Zimmer dunkler wurde, erforschten zwei Hermaphroditen das Dunklere an sich.
Einer, der nach einem Troll aussah, entblößte seinen Buckel einem Wesen mit dicken Lippen und leerem Blick; eine schwarze Katze leckte abwesend am Schenkelinneren einer schmächtigen, unbehaarten Frau, die eine schwarze Halbmaske trug; ein Mann flüsterte einer Frau etwas ins Ohr.
Josh ließ den Blick über
Weitere Kostenlose Bücher