Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
ausführliche Erklärungen abverlangt wurden.
Kurz nach acht lief er die Treppen des Hinterhauses bis zum zweiten Stock hinauf. Er hatte dem Jungen eingeschärft, leise zu sein. Der lange, fensterlose Flur lag düster. Frau Podolskis Küchentür stand wie üblich einen Spaltbreit offen und warf eine Lichtschranke quer durch den Flur.
»Ich bin’s, der Paul, Frau Podolski«, sagte Paul im Vorbeigehen.
»Bist spät dran heut«, antwortete sie träge aus der Küche.
»Es gab wieder Krawalle. In der Lindenstraße war allerhand los. Sie sollen den ›Vorwärts‹ gestürmt haben«, rief er, schob den Jungen in die Kammer und wartete einen Augenblick. Manchmal öffnete die Zimmerwirtin die Küchentür vollends, blieb im Türrahmen stehen und wollte mit ihm reden. Diesmal aber hörte er kein Stühlerücken, kein Schlurfen der Filzpantoffeln.
Er folgte dem Jungen in die Kammer. Durch das schmale Fenster fiel das Morgenlicht. Drei Betten standen in dem engen Raum. Ein riesiger dunkler Kleiderschrank füllte die Stirnwand. Pauls Bett war ordentlich gemacht. Die anderen Betten lagen zerwühlt und so, wie die Schläfer herausgestiegen waren.
»Krieche in ein Bett«, flüsterte Paul. »Ich werde gleich Brot und Kaffee bringen. Verhalt dich still.« Paul hängte Mütze und Jacke an einen Kleiderhaken, nahm aus dem Schrank Handtuch und Seife und ging zurück in den Flur. Dort befand sich, der Kammertür gegenüber, ein Messingkran über einem ziemlich großen steinernen Becken. Er wusch sich und prüfte mit den Fingerspitzen seinen Bart. »Geht noch«, befand er. Dann klopfte er an die Küchentür und trat ein.
Frau Podolski saß in ihrem bunten Morgenkittel am Tisch und las die Zeitung. Die Frau mochte um die fünfzig sein. Ihr Haar war straff zurückgekämmt und zu einem Knoten gebunden.
»Der Kaffee steht auf dem Herd«, sagte sie, ohne aufzublicken. Er schüttete sich die große Blechtasse randvoll. Heiß und dunkel war das Gebräu, aber das war das Einzige, was an echten Kaffee erinnerte. Frau Podolski nahm geröstete Getreidekörner, Malzkaffee eben. Brot, ein kleines Töpfchen Schmalz und ein großes Messer lagen auf der blank gescheuerten Tischplatte. Paul schnitt drei dicke Scheiben herunter, setzte an, eine vierte zu nehmen, da fing er den missbilligenden Blick von Frau Podolski auf und zögerte. Sie brummte: »Das sind mir vielleicht Sieger. Lassen uns glatt verhungern. Die Menschen fallen um wie die Fliegen. Hungertote in Berlin! Hat da der Mensch noch Töne? Der Krieg ist längst aus und Kinder müssen vor Hunger und Kälte sterben. Und Alte auch. Ist das nicht zum Heulen? Und drüben auf der anderen Seite des großen Teiches wissen sie nicht, wohin mit all ihrem Weizen. Füttern doch wahrhaftig die Schweine damit. Verdammt sollen sie sein! Ist ne verdrehte Welt, Paul, ist ne völlig verdrehte Welt.«
Paul kratzte dünn Schmalz auf das Brot.
»Was war mit den Krawallen?«, fragte sie.
»Ich habe nur das Ende gesehen. Quer über den Platz sind sie gerannt, zerstreute Spartakusleute, Soldaten vom Freikorps.«
»Haben die Kerle die Nase denn immer noch nicht voll? Erst die Schießerei am Heiligen Abend und jetzt seit Tagen nichts als Aufruhr. Das neue Jahr fängt ja gut an.«
Sie schlürfte geräuschvoll von ihrem Kaffee.
»Vier Jahre Schießerei, das war doch wohl genug, oder?«
»Viel zu viel. Jeder Schuss war zu viel«, stimmte er ihr zu.
Sie faltete die Zeitung zusammen. Paul erkannte die Weihnachtsnummer der »Roten Fahne«. »Eberts Blutweihnacht«, hieß die riesige Schlagzeile.
»Was die Radikalen nur gegen den Ebert haben«, sagte Frau Podolski. »Ist doch ein anständiger Mann. Die sollen den mal lassen, dann können wir in Berlin bald wieder in Ruhe über die Straße gehen. Na, nächsten Sonntag ist Wahl. Ich könnte den Ebert glatt wählen.«
»Ich nehme meinen Kaffee mit«, sagte Paul. »Ich bin müde. Wir haben heute Nacht schwer geschuftet. Eine Lokomotive musste bis zum Morgen repariert sein.«
Frau Podolski blickte über ihren Brillenrand.
»Bist so aufgedreht, Paul«, sagte sie. »Versau mir nicht das Bettzeug. Frühstücken im Bett, das ist was für feine Herrschaften, aber doch nicht für unsereinen«, maulte sie hinter ihm her.
Bis an die Ohren hatte sich Bruno unter das Federbett verkrochen. Sein Gesicht war verschmiert. Er hatte geweint.
Paul teilte Kaffee und Brot mit ihm. »Nach elf kommt die Podolski«, sagte er. »Sie richtet dann das Zimmer her. Schlaf nur, Bruno. Ich
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