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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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An diesem Sonntag, dem 12. Januar 1919, hatten Ebert und seine Anhänger gesiegt.
    Der Nieselregen hatte aufgehört. Der Himmel war heller geworden. Einige dunkle Wolken zogen schnell über die Hausdächer hin.
    Paul kroch aus dem Keller, klopfte sich den Schmutz von den Kleidern und ging, zögernd erst, schließlich aber entschlossen, auf den Jungen zu, der da unbeweglich in der Morgenkälte hockte. Erst als Paul dicht vor ihm stand, schaute der Junge mit aufgerissenen Augen hoch, starr vor Angst.
    Aber dann huschte Leben über sein Gesicht. Er hob die Hand und rief: »Mensch, Bienmann, Paul! Gott sei Dank!«
    Paul erkannte den Jungen nicht, wohl aber den, der da lag mit dem spitzen Totengesicht, die Augen noch geöffnet. Sein Körper war halb von dem Transparent bedeckt. Die Aufschrift war deutlich zu lesen:
    »Nicht schießen, Brüder!«
    Paul beugte sich hinunter und drückte dem Toten die Lider zu. Wilhelm Kurpek lag da, wenig älter als er. In Liebenberg war Paul mit ihm aufgewachsen. Er hatte ein paar Häuser die Dorfstraße abwärts gewohnt. Wilhelm Kurpek, ein Freund aus Pauls Kindertagen.
    »Und wer bist du?«, fragte Paul den Jungen.
    »Ich bin Bruno, der Bruder vom Wilhelm. Kennst du mich denn nicht mehr?«
    Bruno war Kurpeks Jüngster, der Einzige, der außer Wilhelm noch übrig geblieben war. Paul hatte einen dicklichen Knirps aus der Nachbarschaft vor Augen, der diesem aufgeschossenen Jungen nicht ähnlich sah.
    »Wer du bist, das habe ich gleich gesehen«, sagte der Junge.
    Ein Flachwagen wurde von einem knochigen Pferd über den Platz gezogen. Drei Männer saßen dicht beieinander vorn auf dem Bock. Der, der die Zügel hielt, lenkte das Fuhrwerk bis hin zu der Gruppe. Als er Paul und den Jungen erreicht hatte, zog er die Zügel straff und rief: »Hüh!«
    Zwei sprangen herab und beugten sich über den daliegenden Mann. Der größere sagte: »Noch einer. Diese verdammten Truppen haben die Revolution in Blut erstickt.«
    Vom Bock herunter fragte der Fuhrmann: »Was ist mit dem da? Kennt ihr ihn? Wisst ihr, wohin damit?«
    Paul schaute den Jungen an. »Wo wohnt ihr?«, fragte er.
    Der Junge stand auf und hob die Schultern. »Seit Tagen wohnen wir nirgendwo«, antwortete er. Er deutete in die Richtung, in der die Soldaten verschwunden waren. »Sie haben uns vor sich hergetrieben.«
    »Na, dann los«, befahl der vom Bock herunter. Die beiden Männer fassten die Leiche und warfen sie zu den anderen, die bereits auf dem Karren lagen. Der Junge klammerte sich an Paul, wandte aber das Gesicht nicht ab, sondern verfolgte jede Bewegung der Männer genau. Paul spürte durch die dicke Jacke hindurch das Zittern des Jungen.
    »Name, Alter?«, fragte der Mann auf dem Bock.
    »Kurpek, Wilhelm«, antwortete Paul anstelle des Jungen. »Einundzwanzig wird er sein, stammt wie ich aus Liebenberg, Kreis Ortelsburg.«
    »Er wäre nächste Woche zweiundzwanzig geworden«, sagte der Junge leise.
    Die beiden Männer sprangen auf die Ladefläche und streuten aus einem Sack Kalk über den Toten. Inzwischen hatte der Fuhrmann die dürftigen Angaben mit einem Bleistift in einer schwarzen Kladde notiert.
    »Zum Friedhof«, sagte er, bevor er das Pferd antrieb.
    Paul stand noch eine Weile, den Jungen an sich gedrückt, und konnte seinen Blick lange nicht von dem tellergroßen Blutfleck losreißen, Blut, das auf das Pflaster gesickert war. »Nicht schießen, Brüder!« Neben dem Transparent lag Wilhelms Matrosenmütze. Der Junge hob sie auf.
    »Was nun?«, fragte er.
    »Du gehst erst mal mit mir, Bruno«, versuchte Paul ihn zu beruhigen. »Später sehen wir dann schon, was wird.« Paul hoffte, dass seine beiden Zimmergenossen bereits unterwegs sein würden. Seit Tagen zogen sie morgens zu ihrer Arbeitsstelle, aber keine Hand rührte sich bei der AEG. Selbst am Sonntag hielten die Arbeiter das Werk besetzt. Die Spartakisten, die Arbeiterräte, die Vertrauensleute hatten mit ihren Ideen, mit ihren Reden eine ungeheure Zustimmung gefunden. Genau wusste niemand mehr zu sagen, ob es überhaupt ein Spartakisten-Aufstand war, der da in der ersten Januarhälfte ausgebrochen war. Waren die radikalen Spartakisten nicht nur der Funke in einem Benzinfass gewesen? Der Kaiser saß sicher in Holland. Die Fürstenherrschaft in den Ländern war weggefegt worden. Was sollte werden?
    Es kam Paul darauf an, den Jungen zunächst einmal unbemerkt an der Zimmertür der Wohnungswirtin vorbeizuschmuggeln. In Ruhe wollte er nachdenken, bevor ihm

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