Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
gestutzt, aber dann hat er aus dem Blumengesteck eine rote Rose herausgebrochen und hat sie nicht, wie jeder dachte, der Madam gegeben, sondern hat seiner Franziska die Blüte ins Haar gesteckt. ›Was wären wir Männer ohne die List der Frauen‹, hat er dabei gesagt.
Als der alte Reitzak später immer noch ein weiteres Glas von dem ›roten Bier‹, wie er Karls Johannisbeerwein nannte, über die Zunge laufen ließ, da hat er den Paul damit necken wollen, dass er nur an der Dampfmaschine stehe, weil seine Tochter, die Franziska, ihm den Weg dahin frei gemacht habe. Da hat der Paul ihm geantwortet: ›Eine Chance zu bekommen, das ist eine Sache, aber sie zu ergreifen und festzuhalten, das ist eine andere Sache. Du kannst sicher sein, Vater‹ – er hat tatsächlich Vater zu dem alten Reitzak gesagt –, ›du kannst sicher sein, dass ich an der Maschine der rechte Mann am rechten Platz bin und bleibe!‹«
»Es war ein herrliches Fest«, schwärmte Angenheister. »Je länger ich mich an das Bier erinnere, desto stärker wird mein Zug zur Theke. Ich mache Schluss für heute und gehe noch auf ein paar Stunden in die Kneipe.«
»Ich muss nach Hause«, sagte Alwin. »Ich gehe ein Stück weit mit.«
Bruno zögerte, sagte aber dann: »Ich möchte noch bleiben.«
»Hier ist der Schlüssel, Padre.« Angenheister warf Bruno den Schlüssel zu.
»Ich gehe morgen mit dir zum Zug, Padre«, versprach Alwin.
»Wird ja ein ganz großer Bahnhof«, lachte Bruno. »Klauskötter und Steiner wollen kommen, Manfred, Franziska und Paul auch. Selbst Frau Reitzak hat gesagt, dass sie von Herzen froh ist, weil endlich wieder alle Katholiken aus dem Haus sind, und das sei ihr so viel wert, dass sie ihr ›Grünes‹ anzieht und mich zum Bahnhof bringt.«
»Vielleicht winkt dir auch die Ina Deisius zu«, rief Alwin, und als Bruno ihn mit einem Boxhieb zu treffen versuchte, sprang er ans Land.
»Bis morgen dann«, sagte Angenheister. »Wenn ich in der Frühe schon wieder nüchtern bin, dann komme ich auch.«
Angenheister winkte Bruno zu. Bruno sah sie den Deich hinaufsteigen. In der einfallenden Dämmerung schnitten sich auf der Deichkrone ihre Schattenrisse scharf in den gläsernen Himmel. Dann verschwanden sie auf der anderen Seite des Dammes.
Bruno setzte sich vorn in den Kahn. Der Fischer hatte das Netz hochgezogen. Es wiegte sich sanft mit dem Nachen im Auf und Ab der flachen Wellen. Bruno drehte die Kurbel nicht. Er schaute über den Strom. Abendrot glühte auf. Tausend Rotfunken tanzten auf dem Wasser. Drüben unter dem anderen Ufer zog ein Schlepper vier Kähne von Holland her dem Hafen zu. Schwarz stand die Rauchfahne über dem Horizont. Es war, als ob Himmel und Erde ihre Farben austauschen wollten. Der Himmel über dem Deich zeigte einen Hauch von Mandelgrün und die Uferauen lagen in tiefem Blau.
Bruno saß lange und ließ die Abendbilder in sich hinein. »Es geht stromauf«, sagte er und schaute dem Schleppzug nach, bis die dunkleren Schleier der Nacht allmählich die Konturen verhüllten.
Historische Personen
Ebert, Friedrich (1871-1925)
SPD-Politiker, Reichskanzler, Reichspräsident von 1919-1925.
Ehrhardt, Hermann (1881-1971)
Korvettenkapitän und Freikorpsführer.
Erzberger, Matthias (1875-1921)
Zentrumspolitiker, Reichsfinanzminister, ermordet von Rechtsradikalen.
Hindenburg, Paul von Beneckendorf und H. (1847-1934)
Generalfeldmarschall, Reichspräsident von 1925-1934.
Hitler, Adolf (1889-1945)
Nationalsozialistischer Politiker, »Führer«, Reichskanzler seit 1933.
Kapp, Wolfgang (1858-1922)
Politiker, 1920 Putsch gegen Reichsregierung.
Liebknecht, Karl (1871-1919)
Politiker, Mitbegründer des Spartakusbundes, ermordet von Rechtsradikalen.
Ludendorff, Erich (1865-1937)
Generalstabschef. 1923 Teilnahme am Hitlerputsch.
Lüttwitz, Walther Freiherr von (1859-1942)
General, Oberbefehlshaber der Truppen im Reich, 1920 Beteiligung am Kapp-Putsch.
Luxemburg, Rosa (1871-1919)
Politikerin, Mitbegründerin des Spartakusbundes und der KPD, ermordet von Rechtsradikalen.
Noske, Gustav (1868-1946)
SPD-Politiker, Reichswehrminister, Niederschlagung der Januarrevolution 1919.
Rathenau, Walther (1867-1922)
Industrieller, Politiker, Reichsaußenminister, ermordet von Rechtsradikalen.
Scheidemann, Philipp (1865-1939)
SPD-Politiker, ruft 1918 die Republik aus, 1919 Reichskanzler
Seeckt, Hans von (1866-1936)
Generalstabschef, Chef der Heeresleitung.
Severing, Carl (1875-1952)
SPD-Politiker, 1919-1920
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