Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
stiegen sie die Steinstufen hinab, diesmal ging Adèle voran. Kaum hatten sie die Türöffnung erreicht, griffen mehrere Hände nach ihnen undrissen sie auseinander. Adèle schrie erschrocken auf, Wilhelm stöhnte, weil seine Schulter unsanft gepackt wurde. Es waren geübte Griffe, die ihn von hinten umklammerten. Eine Minute lang geschah nichts, dann hörte Wilhelm das Hecheln von Hunden. Seine Augen hatten sich an das milchige Licht der Kirche gewöhnt, und er erkannte einen dicken, kleinen Mann in der Uniform der deutschen Militärpolizei, der zwei Hunde an der Leine führte, die ihn vor Erregung beinahe umrissen. »Ah, da sind Sie ja«, sagte der Mann scheinbar jovial. »Wir haben uns schon große Sorgen um Sie gemacht – nicht auszudenken, wenn Sie vom Turm gefallen wären …!«
Er blickte zwischen Adèle und Wilhelm hin und her, seine Miene verriet wachsende Verwirrung. »Loslassen!«, knurrte er dann zu den Polizisten, die Wilhelm und Adèle festhielten. »Darf ich fragen, wer Sie sind und was Sie hier machen?«
Wilhelm erkannte blitzschnell die Gunst des Augenblicks. »Ich glaube, das sollte ich Sie fragen«, sagte er scharf. »Wie kommen Sie dazu, einen deutschen Offizier so zu behandeln? Wie war doch gleich Ihr Name …?!
»Feldwebel Knaup!«, antwortete der Mann und knallte die Hacken zusammen. »Feldjäger, 2. Bataillon Elsass-Lothringen!«
»Von Schwemer«, sagte Wilhelm, »Leutnant des 4. Husarenregiments. Und dies ist meine Schwester, wir sind aus Berlin angereist, um uns auf unserem Landgut zu erholen. Was haben Sie mir zu erzählen?«
»Ich bin untröstlich«, antwortete der Feldwebel und zerrte an den Leinen der Hunde, die sich auf ihre Hinterläufe setzten und interessiert die Fremden ansahen. »Wir erhielten Hinweise auf gesuchte Widerständler. Sie müssen wissen, hier in der Gegend braut sich etwas zusammen … ich hatte Befehl …«
»Schon gut«, fiel Wilhelm ihm ins Wort, klopfte dem Mann auf die Schulter und sagte: »Wir tun alle nur unsere Pflicht. Schwierige Zeiten! Trotzdem guten Tag.«
Damit reichte er Adèle seinen Arm, und die beiden schritten an den drei Männern vorbei zum Ausgang der Kirche. Wilhelm blieb noch einmal kurz stehen und sagte über die Schulter nach hinten: »Wenn Sie bitte veranlassen könnten, dass die Plattform auf dem Glockenturm geöffnet wird – wir würden sehr gern bei Gelegenheit die Aussicht von dort oben genießen. Das Wetter ist ideal dafür …« Dann traten sie hinaus in den Sonnenschein. »Nicht umdrehen und nicht stehen bleiben«, sagte Wilhelm leise mit seinem charmantesten Lächeln zu Adèle.
Als sie die Auffahrt zum Gutshaus erreichten und Adèle so schnell wie möglich zum Haus ihres Vaters laufen wollte, hielt Wilhelm sie am Arm zurück. »Verhalte dich unauffällig, geh ganz ruhig, als ob du den herrlichen Frühlingstag genießt. Und wenn du in eurem Haus bist, folge ich und gehe zum Haus meiner Großeltern. Wir sehen uns morgen wieder.«
Die Mütze
Helène war überrascht, Wilhelm schon zur Mittagszeit zurückkommen zu sehen. »Ich wunderte mich heute morgen schon, dass du ohne Pferd aufgebrochen bist«, rief sie aus der Küche. »Du kommst gerade rechtzeitig zum Essen. Großmutter sitzt schon am Tisch, mach dich schnell frisch.« Wilhelm war froh, dass sie ihn nicht ansah, und ging auf sein Zimmer.
Helène hatte Choucroute gemacht, Sauerkraut mit Würsten, das elsässische Nationalgericht, das Großmutter früher meisterlich zubereitet hatte und das Wilhelms Leibspeise gewesen war. Sie pflegte es zur Begrüßung am Tag der Ankunft und zum Abschied, wenn die Heimfahrt der Familie nach Berlin bevorstand, zu servieren. Heute saßen nur zwei Personen an dem großen Esstisch, den Helène liebevoll eingedeckt hatte: sie selbst und die Großmutter. Der Platz am Kopf des Tisches war für Wilhelm freigehalten, ein Gedeck für den Großvater lag neben dem der Großmutter. Wilhelm wollte gerade Platz nehmen, als die Großmutter auf die Sitzfläche des Stuhles neben sich klopfte und sagte: »Wieso kommst du nicht zu mir? Was willst du denn auf Richards Platz?« Wilhelm zögerte einen Moment, dann setzte er sich auf den Stuhl neben seiner Großmutter, die seine Hand ergriff. »Schade, dass die Kinder heute schon wieder abreisen müssen, nicht wahr? Aber auch die schönsten Ferien sind irgendwann vorbei, so ist das nun mal. Ihr werdet schon sehen, die Zeit bis zu eurer Wiederkehr vergeht wie im Flug. Weihnachten sehen wir uns erst mal bei euch in
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