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Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Flohr
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um sich abzulenken. Als sie in Wilhelms Zimmer trat, um zu sehen, ob das Gepäck endlich nach unten gebracht worden war, erstarrte sie. Vor ihr stand, ihr den Rücken zuwendend, eine schwarz gekleidete Gestalt in schweren Stiefeln und machte sich an Wilhelms Reisetasche zu schaffen. Wie angewurzelt beobachtete Helène, wie sie ihre Mütze abnahm, den Verschluss der Reisetasche öffnete, die Mütze zusammen mit einem Brief hineinlegte, sie dann wieder schloss, sich aufrichtete und seufzte. Dann drehte sie sich um und blickte Helène unmittelbar in die Augen.
    Adèle musste Helènes Erscheinen schon vorher gespürt haben, ihr war kein Erschrecken anzumerken – im Gegensatz zu Helène, die vor Überraschung immer noch kein Wort herausbrachte. » Bon voyage, Madame «, sagte Adèle, als sie auf Helène zuging, » mes meilleurs vœux .« Dann verließ sie ohne Eile den Raum, nicht ohne einen angedeuteten Knicks zu machen, als sie dicht an Helène vorbeiging.
    Helène hatte wenig Zeit, ihre Fassung zurückzugewinnen, denn kaum war Adèle aus dem Zimmer, polterten die beiden Kutscher herein, um die Gepäckstücke zu holen. Helène trat ans Fenster und sah Adèle nach, die im Haus ihres Vaters verschwand. Als sie sich schließlich umdrehte, erschrak sie erneut. Wilhelm stand im Türrahmen. »Es ist alles verstaut, Mutter, wir können fahren.«
    Helène sah ihn prüfend an – er musste das Mädchen gesehen haben! Wilhelm war schließlich die ganze Zeit im Haus gewesen, hatte unten in der Halle die Abreisevorbereitungen beaufsichtigt. Sie wollte ihn danach fragen, spürte jedoch, dass sie immer noch zu erregt war, um ruhig zu sprechen. »Was ist, Mutter, geht es Ihnen nicht gut?«
    Sie riss sich zusammen, schüttelte den Kopf und sagte mit belegter Stimme: »Zu viele Erinnerungen. Das Haus ist voll davon.« Damit bot sie ihren Arm an, den Wilhelm ergriff, um seine Mutter die Treppe hinunter und zur Kutsche zu führen.
    Während der holprigen, unruhigen Fahrt sagte Helène wenig, Wilhelms Versuche, Konversation zu machen, fruchteten nicht. Erst als sie im Bahnhof Nancy ihr Abteil betreten hatten und der Zug Fahrt aufgenommen hatte, holte sie tief Luft. »Wir haben jetzt achtzehn Stunden Zugfahrt vor uns, da können wir über dies und jenes reden und so tun, als wäre nichts geschehen. Wäre dir das lieber?«
    Wilhelm war irritiert. »Lieber als was?«
    »Als darüber zu reden, was jetzt wichtig ist.«
    »Und was ist wichtig?«
    Sie beugte sich vor. »Dass du dir über deine Zukunft klarwirst«, sagte sie leise, »und ein paar Dinge begreifst.«
    Wilhelm antwortete nicht.
    »Jetzt machst du wieder dieses Kleiner-Junge-versteht-nicht-was-die-Mutter-meint-Gesicht. Du weißt genau, dass ich dir dann nicht böse sein kann, nicht wahr?«
    »Warum sollten Sie mir böse sein?«
    Sie seufzte. »Böse ist vielleicht nicht das richtige Wort«, erwiderte sie, »besorgt sollte ich besser sagen. Ich habe sie heute Morgen in deinem Zimmer angetroffen.«
    »Wen?«
    Sie deutete auf Wilhelms Reisetasche. »Sieh hinein.«
    Wilhelm erhob sich, nahm die Tasche aus dem Gepäcknetz, stellte sie neben sich auf den freien Sitz und öffnete sie. Adèles graue Schirmmütze lag unübersehbar obenauf.
    Wilhelm ließ sich schwer in seinen Sitz fallen. »Den Brief liest du besser erst, wenn ich nicht dabei bin«, sagte Helène. Dann holte sie tief Luft und fuhr fort: »Kennst du die Geschichte, wie ich deinen Vater kennengelernt habe?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Einige Jahre nachdem die Deutschen Elsass-Lothringen besetzt hatten, fuhren Gruppen von deutschen Beamten von Dorf zu Dorf, die mit den Grundbesitzern über Entschädigungen verhandeln sollten. Entschädigungen dafür, dass in ihren Häusern nun leider Deutsche einziehen würden. Man kam auch zum Haus meiner Eltern. Sie benahmen sich erstklassig, tranken den Wein des Hauses, bedankten sich artig für die Zigarren, die gereicht wurden. Aber es stand außer Zweifel, dass es kein Freundschaftsbesuch war.«
    »Bist du dabei gewesen?«, fragte Wilhelm, der mit großen Augen zuhörte.
    Helène ging nicht darauf ein, sondern fuhr fort: »Eines Tages war ein neues Mitglied in der Delegation der Deutschen. Er stellte sich als Richard von Schwemer vor und sagte, er sei der neue Delegationsleiter und habe uns die Mitteilung zu machen, dass derzeit kein Raumbedarf für deutsche Umsiedler bestünde, man könne sich vor weiteren Belästigungen sicher fühlen. Er hatte damals noch keinen

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