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Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karsten Flohr
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zusammen sein können«, sagte Adèle, »für mich reicht es aus, um mein Leben lang davon zu zehren.«
    Am Tag darauf erhielt Wilhelm Post vom kaiserlichen Heeresamt. Höflich, aber bestimmt wurde er um weitere Atteste für seine Verletzung gebeten. Für den Fall, dass er solche nicht vorlegen könne, nannte man ein Datum, wann er sich bei seinem Husarenregiment zur Frühjahrsfeldübung einstellen solle. Der Termin war in zwei Wochen.
    *
    Mit der Frühlingssonne kamen auch die Lastkähne wieder. Nachdem das letzte Eis auf dem Rhein-Marne-Kanal getaut war, fuhren sie aus den Bergbauregionen von Nancy kommend an Lagarde vorbei in Richtung Westen. Das tiefe Tuckern der Motoren und gelegentliche Kläffen der Hunde – jedes Schiff hatte einen Bordhund – drangen bis zu ihrem Lagerplatz in der Ruine des alten Schlosses des Fürsten von Deux-Ponts-Bitche hinauf, die unverändert, aber völlig überwuchert im Wald lag, nachdem sie imDreißigjährigen Krieg zerstört worden war. Bäume wuchsen aus dem dicken Mauern, Wildschweine hatten den Boden des ehemaligen Rittersaals durchwühlt, der jetzt unter freiem Himmel lag.
    Wilhelm traf meist einige Minuten vor Adèle ein. Sobald er ihre Fahrradklingel hörte, sprang er auf und lief ihr entgegen. Gemeinsam trugen sie den Korb mit den Lebensmitteln in ihren Salon – so nannten sie den dachlosen Raum, der früher die Küche des Schlosses gewesen war und in dem sie die meiste Zeit des Tages verbrachten. Hohe, halbrunde Fensteröffnungen gaben den Blick frei in den Wald.
    Sie genossen die Stille und die ersten wärmenden Sonnenstrahlen. »Wenn alles vorüber ist, werden wir uns nicht länger verstecken müssen«, sagte Adèle und legte ihren Kopf an seine Schulter, während sie die Burg umrundeten.
    »Was – vorüber?«, fragte Wilhelm.
    »Wenn alles wieder normal ist, wenn die Leute zur Vernunft gekommen sind. Ich weiß nicht viel über euren Kaiser, aber irgendwann wird auch er merken, dass man so nicht mit den Menschen umspringen kann. Er hat doch sicherlich besonnene Männer um sich, die ihn beraten. Wie deinen Vater zum Beispiel. Er kennt doch den Kaiser, oder?«
    Wilhelm nickte. »Ich glaube aber nicht, dass der die Dinge wesentlich anders sieht. Die meisten Deutschen haben im Moment das Gefühl, nachholen zu müssen, was andere schon lange haben. Kolonien überall auf der Welt zum Beispiel, einen Kaiser für das ganze Reich, eine starke Armee. Sie fühlen sich immer noch im Nachteil gegenüber den anderen, zum Beispiel den Franzosen. Deshalb führen sie sich hier so auf, sie wollen zeigen, dass sie mittlerweile stark genug sind, überall mitzumischen.«
    Adèle seufzte. »Lass uns zum Wasser gehen, zu der Schleuse, an der wir früher immer den Schiffen zugesehen haben.«
    »Aber – wenn man dich mit mir sieht?«
    Sie zuckte die Achseln. »Hier im Dorf wohnen etwa 200 Menschen, alles Bauern, bis auf den Schleusenwärter, den Pfarrer und den Schullehrer. Sie kennen mich von klein auf und wissen,dass Vater mit den Unabhängigen liebäugelt. Das tun hier fast alle. Und dich kennen sie ebenfalls, von früher. Solange uns keine deutschen Polizisten begegnen …«
    Wilhelm sah sie bewundernd von der Seite an. Das zarte kleine Mädchen mit den lustigen Augen, das ihn so viel zum Lachen gebracht hatte wie sonst niemand, war eine selbstbewusste, energische Frau geworden.
    »Und wenn schon«, sagte er, »wenn du dir noch eine Mütze aufsetzt, wird dich keiner erkennen.«
    »Hab’ ich dabei!«, sagte sie und zog eine graue Schiebermütze aus der Hosentasche, die sie sich verkehrt herum auf den Kopf setzte.
    Wilhelm zog sie an sich und küsste sie. »Du bist wundervoll, absolut einmalig. Schade, dass meine Schwester dich jetzt nicht sehen kann, sie würde dich glühend beneiden.«
    »Wieso?«
    »Sie ficht gerade mit unserem Vater erbitterte Kämpfe darüber aus, wie modern sie sich kleiden darf. Vor unserer Abreise nach Togo hat sie es gewagt, eine Hose zu tragen. Er ist fast verrückt geworden darüber.«
    »Ich mochte sie immer«, sagte Adèle. »Weißt du, was sie einmal zu mir gesagt hat?« Ohne Wilhelms Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Wenn Wilhelm nicht mein Bruder wäre, würde ich um seine Hand anhalten. Ich will keinen von diesen Burschen mit den Schmissen im Gesicht, die sich jeden Abend im Studentenverein besaufen. Die haben nichts im Kopf als Pferdemist und ihren Kaiser. Das ist bei Wilhelm anders.«
    Sie erreichten den Waldrand und blickten auf den Kanal hinunter,

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