Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Berlin wieder.«
Wilhelm sah zu seiner Mutter hinüber, die sich darauf konzentrierte, Sauerkraut auf Wilhelms Teller zu schöpfen. »Nein! Nicht die fette Wurst, nur die magere bitte!«, rief die Großmutter. »Antoine hat wieder dieses Sodbrennen in den letzten Tagen, nicht wahr, mein Lieber?« Dabei tätschelte sie Wilhelms Hand. »Aber das wird schon wieder«, fügte sie hinzu, »die Tropfen von Dr. Landrú haben noch immer geholfen.«
Sie strahlte Wilhelm an. »Und den Rotwein reduzieren wir auch etwas, dann ist dein Hals bald wieder wie neu!« Dann machte sie sich hungrig über ihr Essen her. Wilhelm versuchte erneut, Blickkontakt zu seiner Mutter herzustellen, aber die starrte angespannt auf ihren Teller und schob das Sauerkraut von einer Seite zur anderen. Wilhelm kaute unbehaglich auf einer der kleinen, stark gepfefferten Würste herum. Einerseits rührte ihn die alte Frau, andererseits wusste er nicht, wie er auf ihre Verwirrtheit reagieren sollte. Er legte eine Hand auf ihren Arm. »Großmutter …«, sagte er, »dieses Essen ist jedes Mal wieder himmlisch, es gibt niemanden, der …«
»Warum nennst du mich so?« Langsam wandte sie ihm ihr Gesicht zu, ihre Augen verrieten Panik. »Antoine, wo bist du?«, sagte sie leise. »Was ist mit dir, du siehst so …« Ihr Oberkörper schwankte, dann sackte sie in sich zusammen, fiel langsam gegen Wilhelms Schulter und rutschte auf seinen Schoß, wo sie still liegen blieb.
Wilhelm blickte auf sie herunter, dann sah er zu seiner Mutter. Tränen liefen über ihr Gesicht.
*
Der Friedhof von Lagarde war zu klein, um sämtliche Trauergäste aufzunehmen. Zuvor, in der Kirche, waren alle Dorfbewohner erschienen, um der Trauerfeier für Madame d’Alsace beizuwohnen. Sie und ihr Mann waren jahrzehntelang die Honoratioren des Ortes gewesen. Auch ohne ein offizielles Amt wie das des Bürgermeisters zu bekleiden, war Antoine d’Alsace eine Instanz gewesen, jemand, den man aufsuchte, wenn es Streit zu schlichten gab, wenn man Rat suchte. Selbst mit privaten Problemen ging man zu Antoine und Camille – trotz allen Respekts sprach jeder im Dorf sie mit Vornamen an – und konnte stets ihrer Aufmerksamkeit sicher sein und einen guten Rat mitnehmen.
Die Zeit hatte nicht gereicht, um die Familie aus Berlin anreisen zu lassen, zumal sich Richard nach wie vor in Togo aufhielt. Als Helène und Wilhelm nebeneinander vor dem offenen Grab der Großmutter standen, gleich neben der Grabstelle des Großvaters, auf der immer noch verwelkte Blumen lagen, und zusahen, wie ein Dorfbewohner nach dem anderen herantrat, um eine Schaufel Erde auf den Sarg zu werfen, spürte Wilhelm zum ersten Mal in seinem Leben ein Gewicht auf seinen Schultern. Er fühlte etwas, was er nicht kannte und was ihn schaudern ließ. Zum zweiten Mal in kurzer Zeit wohnte er einer Beisetzung bei, wobei die in Togo von den fremdartigen Eindrücken geprägt war, die ihn mehr irritiert als belastet hatten. Jetzt verspürte er zum ersten Mal den Anflug eines Gefühls von Endlichkeit, das auf ihm lastete.
Wilhelm wünschte sich, Adèle wäre bei ihm. Er reckte seinen Hals und suchte mit den Augen nach ihr, blickte über den Friedhofszaun auf die Menschen, die noch draußen warteten. Er sah sie erst, als er die Suche schon aufgeben wollte: Adèle und ihr Vater standen unmittelbar vor ihm und Helène, Monsieur Printemps in einem schwarzen Anzug mit Krawatte, Adèle trug einen grauen Mantel und ein Kopftuch. Beide hielten den Kopf gesenkt, als sie auf Helène zutraten und ihr die Hand gaben. Monsieur Printemps murmelte etwas auf Französisch, was Wilhelm nicht verstand, Adèle machte einen Knicks und schwieg. Stattdessen hielt sie lange Helènes Hand, hob dann den Kopf und sah ihr in die Augen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Auch Monsieur Printemps bemerkte es, wandte sich aber zu Wilhelm, um ihm zu kondolieren. »Eine Frau wie Ihre Großmutter hätte wohljeder gern in seiner Familie. Sie war wunderbar, die Letzte einer außergewöhnlichen Familie. Mein Beileid!«
Als Adèle vor Wilhelm trat und ihm die Hand reichte, wandte sich seine Mutter bereits dem nächsten Trauergast zu. Wilhelm konnte ihr Gesicht nicht sehen.
*
Die Abreise war für Montag geplant. Am Wochenende nach der Beerdigung der Großmutter sah das alte Gutshaus so viele Gäste wie schon lange nicht mehr. Freunde und entfernte Verwandte der Familie d’Alsace, die es nicht rechtzeitig zu Trauerfeier geschafft hatten, gaben sich die Klinke in die
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