Zeitenzauber: Das verborgene Tor. Band 3 (German Edition)
wie auf einem Benimmkurs und achteten streng darauf, keine Grenzen zu überschreiten.
Der Earl textete mich nach Strich und Faden zu und wollte ständig weitere Einzelheiten aus den Tropen hören. Als ich meinem Hirn kein Plantagenflair mehr abpressen konnte, griff ich zu verzweifelten Maßnahmen.
»Na ja, meist war das Leben auf Rainbow Falls sehr langweilig. Außer, wenn Feste stattfanden. Da wurde das Haus schön geschmückt, und die jungen Damen saßen in ihren Reifröcken gemeinsam mit den Herren auf der Veranda und tranken Mint Julep. Die Schwarzen sangen auf dem Feld, während sie die Baumwolle pflückten – ähm, das Zuckerrohr schlugen …«
»Reifröcke?«, fiel mir die Frau gegenüber interessiert ins Wort. »So wie zur Zeit von Queen Elizabeth? Trägt man das jetzt wieder in Westindien und Amerika?«
Tja, da hatte sie mich. Ich hatte keine Ahnung, was man da gerade trug. Wahrscheinlich das Gleiche wie hier. Die Szene, die ich gerade beschrieben hatte, stammte direkt aus Vom Winde verweht , also einer Zeit, die erst in ungefähr fünfzig Jahren anbrach. Ich ließ die Sache mit den Reifröcken auf sich beruhen und ging nahtlos zu der karibischen Schiffsreise über.
»Die Überfahrt war ebenfalls ziemlich langweilig, abgesehen von diesem schlimmen Tag, an dem uns die Piraten überfielen. Der Kapitän war ein übler Halunke namens Barbossa. Er aß gerne grüne Äpfel, und er hatte so ein Äffchen auf seiner Schulter sitzen, das den Leuten das Gold aus der Tasche stahl.«
Die Frau gegenüber hing mit weit aufgerissenen Augen an meinen Lippen. »Hat er Sie bedroht?«
»Der Affe? Oh, nein, er wollte nur mein goldenes Armband.« Ich lachte ein bisschen bemüht.
»Ich meinte den Kapitän. War er sehr grausam?«
Ich dachte kurz nach. »Na ja, sanftmütig war er nicht gerade. In seiner Crew gab es beispielsweise so einen Kerl namens Stiefelriemen-Bill, den hat er wegen irgendeiner Lappalie über die Planke gehen lassen.« Ich fuhr mir mit dem Finger über die Kehle, um zu untermalen, was das bedeutete. Als ich den entsetzten Blick der Dame bemerkte, fügte ich abschwächend hinzu: »Aber er konnte natürlich schwimmen. Sicher kam er irgendwie durch.«
Ich überlegte, ob ich noch die Story vom Angriff des Riesenkraken erzählen sollte, doch Reginald legte mir gerade einen Fisch auf den Teller und fragte, ob ich Senfsoße dazu wolle. Schaudernd blickte ich auf den Fisch, der glupschend zurückstarrte, weil jemand vergessen hatte, ihm vor dem Servieren den Kopf abzuschneiden. Alle anderen kriegten ihren Fisch aber auch mit Kopf, folglich hatte es wohl seine Richtigkeit.
Der Earl war so fürsorglich, meinen Fisch zu filetieren und die überzähligen Teile auf einem Resteteller zu deponieren, sodass ich beim Essen nicht immer in die toten Augen schauen musste. Trotzdem war ich froh, als der letzte Hauptgang abgetragen war und die Diener den Nachtisch hereinbrachten – eine Eisbombe, die unter lautem Ah und Oh flambiert wurde und anschließend erstaunlich gut schmeckte.
Die ganze Zeit floss der Champagner in Strömen. Eigentlich hatte ich ja eine Aufgabe, aber ich hatte gerade nicht mehr im Kopf, welche. Mittlerweile war ich erzählerisch zur Höchstform aufgelaufen. Das Kerzenlicht brach sich funkelnd in den Kristallgläsern und regte meine Fantasie an. Auf einmal war es ganz leicht, über die karibische Lebensart zu dozieren, mir fielen noch jede Menge Kleinigkeiten ein. Zum Beispiel der Hurrikan, der uns letztes Jahr große Teile unserer Ernte gekostet hatte und bei dem unser halbes Herrenhaus weggeflogen war.
Der Earl schenkte mir mein Glas zum dritten oder vierten Mal voll, und wir prosteten uns fröhlich zu. Abgesehen von seiner durchdringenden Stimme war dieser George ein wirklich netter Typ, auch wenn er nur die Hälfte von dem verstand, was man ihm erzählte.
Nach einer Weile bemerkte ich, dass Sebastiano mir quer über den Tisch bedeutungsvolle Blicke zuwarf und ein paarmal unauffällig mit dem Kopf in Richtung Tür wies. Ich starrte ihn verständnislos an, bis ich endlich kapierte, worauf er hinauswollte – wir waren nicht zum Spaß hier, sondern weil wir dem Earl auf den Zahn fühlen wollten. Ich stand auf und fächelte mir mit beiden Händen Luft zu. »Sir, ich glaube, es würde mir guttun, mich draußen ein wenig abzukühlen«, teilte ich ihm mit. Der hoheitsvolle Ton, in dem ich gesprochen hatte, wurde etwas durch das Hicksen beeinträchtigt, das vom Champagner kam. Ich vertrug einfach
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