Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
kamen an der Baustelle des Palazzo Tassini vorbei. Die Mauern waren inzwischen weiter in die Höhe gewachsen, das erste Stockwerk und das darüberliegende Zwischengeschoss waren bereits fertig. Unwillkürlich ging mein Blick zu der Stelle am Ufer des Kanals, wo Matteo und ich vor Wochen Tramezzini gegessen hatten. Ich traute meinen Augen kaum, als ich ihn dort sitzen sah. Mit beiden Händen hielt er sein Brot und biss hinein. Ich wollte nach ihm rufen, ihm winken und ihm sagen, dass ich nach Hause fahren würde, zurück in unsere Zeit. Doch stattdessen brach ich in Tränen aus.
»Was ist?«, fragte Sebastiano sanft. Er hatte Matteo ebenfalls gesehen. »Möchtest du noch einmal mit ihm reden? Sagtest du nicht, du hättest dich schon von ihm verabschiedet?«
Das traf zu, auch wenn es mit der letzten Rückreise dann nicht wirklich geklappt hatte. Aber nicht das brachte mich zum Heulen.
»Es ist so schrecklich«, sagte ich unter Tränen. »Er wird niemals Zahnarzt werden können!«
»Vielleicht hat er es hier besser.«
Aus einer der Gassen sah ich Juliane Tasselhoff auftauchen. Sie blickte sich um und entdeckte dann Matteo. Mit ärgerlicher Miene ging sie in seine Richtung. Wir konnten nicht hören, was sie zu ihm sagte, aber seinem Gesichtsausdruck zufolge war es nichts Nettes.
»Na ja, vielleicht nicht gerade besser«, räumte Sebastiano ein, während unsere Gondel am Ort des Geschehens vorbeizog. »Aber wenigstens wird er dank ausgiebiger Prophylaxe nie Karies kriegen, das will in dieser Zeit schon was heißen.«
Der restliche Tag verging quälend langsam, ich hätte am liebsten unaufhörlich geheult, bis schließlich die Zeit des Abschiednehmens gekommen war. Zuerst sagte ich Marietta Lebewohl. Sie wünschte mir alles Gute und forderte mich auf, in der Kälte nie ohne Umhang nach draußen zu gehen.
»Keine Sorge, zu Hause habe ich eine Daunenjacke.« Ich rechnete damit, dass der intergalaktische Translator das in irgendein merkwürdiges Wort umwandelte, doch zu meiner Überraschung kam es genauso heraus, wie ich es gesagt hatte. Anscheinend waren Daunenjacken in dieser Zeit schon erfunden.
»Jetzt geht es auf die Reise, Polidoro«, sagte ich zu dem Papagei.
»Ich will nicht zurück nach Neapel«, kreischte er.
»Keine Angst, du darfst hierbleiben.«
Der Abschied von Clarissa fiel mir am schwersten. Wir lagen uns weinend in den Armen.
»Adieu, liebste Freundin«, schluchzte sie.
Ich drückte sie, aber nicht allzu fest, weil die Wunde ihr immer noch wehtat. Ihr Haar roch nach frischer Fliederseife. In einem Hinterzimmer des Maskenladens hatte sie sich eine kleine Offizin eingerichtet und experimentierte mit neuen Duftmischungen.
»Schwöre mir, dass du mich nie vergisst!«, sagte sie weinend.
Das konnte ich ihr aus tiefstem Herzen versprechen. Nicht nur, weil sie meine Lebensretterin war und ich sie schrecklich gernhatte, sondern weil sie mir ganz neue Horizonte in Bezug aufs Flunkern eröffnet hatte. Wenn es je eine Meisterin in dieser Disziplin gegeben hatte, so hieß sie Clarissa. Im Stillen hatte ich bereits die Redewendung Lügen wie gedruckt in Lügen wie Clarissa abgewandelt. Doch das sagte ich ihr natürlich nicht. Außerdem fand ich es im Nachhinein betrachtet nicht mehr ganz so schlimm, denn sie hatte nur gelogen, um zu überleben. Meistens jedenfalls.
Bart und ich umarmten uns ebenfalls. »Werde glücklich«, sagte er nur.
Ich nickte schluchzend und stieg in die rote Gondel, wo Sebastiano bereits auf mich wartete.
Es war eine stille, klare Neumondnacht. Der Himmel war schwarz bis auf vereinzelte Sterne, die wie Glitzerpunkte leuchteten.
Die rote Gondel glitt über das dunkle Wasser des Kanals, hin zu der Stelle, an der sich das Zeitfenster auftun würde.
Es war ein besonderes Fenster, wie mir Sebastiano erklärt hatte, denn die Menschen konnten es nicht sehen, wenn es in Betrieb war. Niemand musste in Ohnmacht fallen, obwohl es das stärkste und größte Fenster in Venedig war. Es hing mit der roten Gondel zusammen, der immense Kräfte innewohnten.
Auf dem letzten Wegstück zu besagtem Zeitfenster sann ich über einige Fragen nach, die sich mir plötzlich aufdrängten.
»Eins musst du mir noch erklären«, sagte ich zu Sebastiano. »Als José dich durch das Zeitfenster von San Stefano in die Gegenwart zurückbrachte, war die Zeit dort weitergelaufen, oder? Du sagtest doch mal, dass man nur zum Moment seines Aufbruchs zurückkehren kann, wenn man bei Mondwechsel die rote Gondel
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